
Beyond Yoga – Mehr als Asana
Text: Dominic Schafflinger
Fotos: Wildbild, Gasteinertal Tourismus GmbH, Marktl Photography, Joaquin Gomez Picca, Clarissa Sofia Tunks, Miriam Raneburger, Lenka Minarik,
Yoga ist mehr als nur stilles Sitzen und achtsame Dehnübungen, wer tief in die Yogawelt eintaucht, der entdeckt weit mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.
Augenscheinlich für jeden Yogapraktizierenden, egal ob Anfänger oder Fortgeschrittener, sind zum einen die Asanas, in denen man mal leichte, mal anstrengende Verenkungsübungen vollführt, darin verweilt oder hindurchfließt. Zum anderen gehört zu Yoga die stillen Meditationen, in denen man zum Beispiel in der Shavasana liegend oder im halben oder vollen Lotussitz sitzend Atemkontrolle, Konzentration und geführte Visualisierungen übt. Mit diesen beiden Grundübungen hat man dann auch schon 90 Prozent aller Yogaklassen beschrieben. Was die wenigsten Hobby-Yoginis allerdings wissen, ist, dass das nicht das Herz von Yoga ausmacht, sondern eigentlich nur der kleinste Teil eines Weges ist, der viel tiefer geht als bloße Entspannung vom stressigen Berufsalltag und ein wenig Stretching.
Der Ursprung
Die Praxis des Yoga reicht unendlich weit in die indische Geschichte zurück. Schon in der Rigveda, dem ältesten indischen Weisheitsbuch, findet sich um 1500–1200 vor Christus der Begriff „yuj“, der die Wurzel des Wortes Yoga ist und „verbinden“ oder „vereinigen“ bedeutet. Er bezieht sich hier auf die Vereinigung von Körper und Geist mit dem Göttlichen.
Fia Sonora ist Vollzeit-Yogalehrerin in Gastein und hat viele Jahre in Asien verbracht. Sie weiß, dass die ursprüngliche Bedeutung von Yoga auch heute noch gültig ist: „Bewegung, Atmung und Meditation sind für sie der Schlüssel zu einer tiefen Verbindung mit sich selbst, mit anderen und mit dem großen Ganzen. Yoga ist mehr als nur entspannte Asana und Meditation, Yoga ist eine transzendentale Lebenserfahrung. Ein Weg der Klarheit, der Authentizität hin zu PURITY (Sauca) und reinem Bewusstsein.“
In der Bhagavad Gita (500 bis 200 vor Christus) wird Yoga als die Befreiung von Leid und Sorgen beschrieben:

„Wenn der von allen Begierden erlöste, gebändigte Geist einzig im Selbst fest begründet ist, wird er ausgeglichen genannt. Eine Lampe an einem windstillen Ort flackert nicht. Mit ihr wird der Yogin verglichen, der sein Denken bezähmt hält und die Vereinigung mit dem höchsten Selbst übt.
Dieses, worin das Denken ruht, das durch Versenkungsübung zurückgedrängt ist, worin er das Selbst mit dem Selbst schaut und sich am Selbst erfreut; worin er dieses höchste Entzücken findet, das durch den Verstand wahrnehmbar, jenseits aller Sinnesbereiche liegende, worin gegründet er nicht mehr von der Wahrheit abweicht;
Dieses, welches er für einen nicht mehr zu übertreffenden Gewinn hält, sobald er es gewonnen hat, worin gegründet er selbst vom schwersten Leid nicht erschüttert wird;
Dieses möge man unter dem Namen Yoga erkennen, die Loslösung aus der Verbundenheit mit dem Leiden. Mit Entschlossenheit und unverdrossenem Gemüte übe man dieses Yoga.“
Bhagavad Gita, Kapitel 6

So ist Yoga zuallererst ursprünglich eine religiöse Praxis, die dem Buddhismus nicht unähnlich scheint. In den Veden und Upanishaden ist Yoga noch auf Meditation, Opferzeremonien und Atemkontrolle (Pranayama) beschränkt. Die heute als Yoga bekannte Bewegung kam dann allerdings erst später ins Spiel. Der Weise Patanjali lebte zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. in Nord- oder Zentralindien und für ihn waren Asanas noch die korrekten Sitzhaltungen in der Meditation. Yoga war immer ein Prozess, um dem Göttlichen näherzukommen – Samadhi. Erst ab dem 10. Jahrhundert entwickelte sich Hatha-Yoga, und die ersten Dehnübungen wurden niedergeschrieben.
Der alte Yoga-Weg
Patanjali beschreibt den Weg zu Samadhi in seinem Yogasutra als achtstufigen Pfad, der aufeinander aufbaut. Alles beginnt mit Yama, den allgemeinen ethischen Geboten, denn das richtige Verhalten anderen gegenüber schafft die Basis für alles Weitere. Niyama stellt Ansprüche daran, wie man mit sich selbst umgeht und Disziplin erwirbt, um überhaupt den Yogaweg gehen zu können. Als drittes und noch immer am Anfang steht dann die Asana, die ursprünglich die richtige Sitzhaltung meinte und heute als körperliche Praxis der physischen Gesundheit praktiziert wird. Es folgen mit Pranayama, Pratyahara und Dharana die drei meditativen Hauptstufen des Yoga, in denen man immer tiefer in die Versenkung eintritt, bis man letztendlich bei Dhyana bei der wahren Meditation angekommen ist und so letztendlich Samadhi erlangen kann. Yoga zeigt sich also als Weg, der alle Aspekte des Lebens mit einbezieht und eigentlich nur in Abkehr von der Welt und voller Hingabe an das Endziel erreicht werden kann.
„Be in the world, but not of the world“
Mit diesem Weg der Abwendung von allem Weltlichen hätte Yoga wohl nie die Popularität erreicht, die es heute genießt. Doch die Reform ging nicht von findigen Marketingexperten aus, sondern von Meistern, die erkannten, dass Yoga nicht nur für den Einsiedler bestimmt ist, sondern seinen Platz mitten im Leben verdient.
Während Vivekananda und Krishnamacharya ab dem 19. Jahrhundert in Richtung unserer heutigen Asanas weiterentwickelten, änderte Lahiri Mahasaya, ein Lehrer Yoganandas, das fundamentale Yoga-Mindset, das die Yogapraktizierenden aus den alten Dogmen befreite und einen modernen Zugang ermöglichte. Der Kriya-Yoga-Meister aus Benares führte selbst ein normales Familienleben und war verheiratet. Er betonte stets, dass Erleuchtung nicht nur für Mönche möglich sei, sondern dass es für jedermann erreichbar ist – auch in einem gewöhnlichen Leben mit Arbeit, Ehe und Familie. Nur die Mittel müssen anders gewählt werden. Das ist genau das, was die kreativen Top-Lehrer unserer Generation versuchen: Yoga ins Leben zu holen. Denn da Yoga am Ende ein spiritueller Weg ist, geht es darum, Übungen zu finden, die diese Erfahrung unterstützen – und nicht nur altes Wissen zu überliefern.

Mit dem Handstand zum Yogameister
Joaquin Gomez Picca unterrichtet am Gasteiner Yogafrühling die Kunst des Handstandes: „Yoga ist ein holistisches System, das Körper, Geist und Seele verbindet. Der Handstand dient, wie andere klassische und fortgeschrittene Asanas, als Metapher, um die tiefere Bedeutung von Yoga zu erfahren. Mit dem Handstand lernt man das alte Yoga-Konzept ‚sthira sukham asanam‘ besser zu verstehen. Das bedeutet, dass jede Position zugleich fest und komfortabel sein sollte.“ Wer bei Joa den Handstand erlernt, sieht nicht nur die Welt aus einer anderen Perspektive, sondern wird in seiner Stabilität gefordert und aus seiner Komfortzone geholt. „Wir lernen, Entspannung im Diskomfort zu finden – eine wertvolle Erfahrung, die wir mit ins Leben nehmen können“, ist sich Joa sicher und ergänzt: „Übt man regelmäßig, wird der Handstand zu einer Art der Meditation, in der Atmung, Fokus und Aufmerksamkeit zu einer einzigen Erfahrung im gegenwärtigen Moment zusammenfließen. Aber das größte Geschenk ist die mentale Resilienz, die der Handstand kultiviert.“
Der Atem fließt, die Welt klingt
Wenn Yoga uns in unserer Welt abholen und unterstützen soll, darf es nicht nur aus akrobatischen und körperlich anstrengenden Übungen bestehen, sondern muss auch das Weiche bieten, das unsere Seele direkt anspricht. Christine Swoboda unterrichtet österreichweit und im Gasteiner Yogafrühling Yin Yoga, eine moderne Variante, die Menschen dazu auffordert, möglichst wenig zu tun, sich aber möglichst viel gehen zu lassen. Hier werden Yogapositionen im Liegen oder Sitzen möglichst lange gehalten. Durch langsames Hineinatmen in die Dehnung wird zunehmend tiefer entspannt, um immer mehr loszulassen. Was früher auf der Matte geübt wurde, verlegt Christine schon mal ins Aerial-Yogatuch. Doch ihre ganz eigene Interpretation des Yin Yoga liegt in der Musik, mit der die gelernte Musikerin die Yogasessions begleitet: „Sanfte Beindehnungen begleite ich mit selbst komponierten Klavierstücken, Hüftöffnungen mit der Handpan, und wenn die Teilnehmer mit ihrem Herzen in Verbindung treten, erklingt mein Bandoneon, während dazwischen Klangschalen auf den Körpern der Praktizierenden angeschlagen werden.“ Christine ist sicher, dass die Vibrationen der Instrumente zusammen mit der im Moment entstehenden Musik besonders auf die Teilnehmer wirken und sich eine besondere Form der Geborgenheit einstellt, die dann durch den Alltag trägt.

Yoga in schwierigen Zeiten
Resilienz und Akzeptanz können im Yoga geübt und gefestigt werden. Fia Sonora, die seit Jahren die Gasteiner Yogatage organisiert, lehrt dort auch regelmäßig, den Weg, den man geht, schützen zu lernen. „Ich praktiziere Yoga und Kampfsport, seitdem ich ein Teenager bin. Beides finde ich wichtig, denn das eine geht mehr nach innen, das andere mehr nach außen. Und beides ist wichtig, weil sich das Innere im Äußeren widerspiegelt. Wahrer Frieden kann nur entstehen, wenn wir wissen, wofür wir bereit sind zu kämpfen und wenn wir uns unserer eigenen Kraft und unseres Potenzials bewusst sind. Krise ist dabei oft ein Katalysator für das Zurückfinden zur eigenen Natur.“ Deshalb verbindet sie in ihren Mixed-Movement-Yoga-Sessions die Erfahrungen und Erkenntnisse aus beiden Systemen zu einem ganzheitlichen Yoga-Stil. „Ich kombiniere viele verschiedene Bewegungskulturen und vertrete einen holistischen Ansatz, weil es darum geht, Muster zu erkennen, schlechte Gewohnheiten zu brechen und Stück für Stück bewusster, klarer, reiner und damit zufriedener zu werden“, erklärt Fia
Aber nicht nur eine martialische Seite kann zum Yoga gehören – auch Rituale und andere Zeremonien helfen dabei, sich mit den natürlichen Zyklen zu verbinden und die innere Balance zu finden. Sie sind eine Einladung, tiefer in die eigene Spiritualität einzutauchen und die Verbundenheit mit der Erde bewusst zu erleben. In den letzten Jahren standen in Gastein auch Feuerlaufen oder Wandern in Achtsamkeit auf dem Programm. Yoga ist heute viel mehr als nur das Einnehmen von Positionen und das stille Sitzen auf einer Matte – es ist die Verbindung mit dem Leben an sich. So viele Facetten, wie das Leben uns bietet, so viele unterschiedliche Zugänge zu Yoga gibt es. Auch das Endziel definiert jeder Praktizierende für sich, egal ob es Entspannung vom anstrengenden Alltag ist, die Rückkehr zur eigenen Spiritualität, bessere Beweglichkeit oder vielleicht doch am Ende des Tages Erleuchtung. Ein Aspekt zieht sich aber durch alle Übungen und alle Zeiten, ist sich Fia sicher: „Yoga bedeutet ‚verbinden‘ und geht viel tiefer als nur Body und Mind zusammenzubringen. Jeder ist auf seinem eigenen Weg, aber ein Stück weit dürfen wir ihn immer zusammen gehen, um letztendlich ein kleines Stück des großen Ganzen gemeinsam zu schaffen – unsere Welt zu co-kreieren.“