
Viel Lärm um Achtsamkeit
Rezension: Dominic Schafflinger
Fotos: Bad Wörishofen
Achtsamkeit ist längst im Mainstream angekommen – in den Teeregalen im Supermarkt und in den Personalabteilungen der Konzerne. Millionen Deutsche und Österreicher meditieren regelmäßig. Das Versprechen ist verlockend: Stille und Frieden finden in unserer hektischen, schnelllebigen Zeit. Aber ist es inzwischen nicht einfach nur ein Werbeteaser – und vielleicht nicht viel mehr als Etikettenschwindel?
Alles beginnt im Kibbuz
Der Soziologe Jacob Schmidt hat den anhaltenden Trend in seinem populärwissenschaftlichen Buch untersucht und kommt zu dem Schluss: Achtsamkeit verspricht viel mehr, als sie zu bieten hat. Schmidt promovierte in Soziologie an der Universität Jena und hat sich während dieser Zeit intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt. In mehreren wissenschaftlichen Arbeiten ist er auf den Themenkomplex Achtsamkeit und ihre Verbindungen zur Populärkultur eingegangen. Nebenbei praktiziert er selbst, unter anderem mit einem buddhistischen Meister in der Zurückgezogenheit eines israelischen Kibbuz. Genau hier beginnt auch seine Erzählung.
Meditation für Fortgeschrittene
Was Jacob Schmidt in seinem Kibbuz beschreibt, ist jene Form von Achtsamkeit, die nur den Hartgesottenen vorbehalten ist: Von 5 bis 21 Uhr meditieren, mit stündlichem Wechsel zwischen Sitzen und Gehen, dazwischen drei Mahlzeiten und regelmäßige Gespräche mit dem Lehrer. Es ist ein mönchisches Leben – und sogar mehr als das. Denn als buddhistischer Mönch gilt es, das Kloster in Schuss zu halten, Feldarbeit zu verrichten und Laien Ratschläge zu geben, wie sie die Probleme des Lebens besser bewältigen können. Die Einleitung beschäftigt sich somit mit dem, was man als Meditations-Bootcamp bezeichnen könnte.
Der Gegenpol: McMindfulness
Der Spannungsbogen ist bewusst so gewählt, denn als Gegenpol entdeckt Schmidt immer mehr Achtsamkeitsangebote, die am besten zwischen Tür und Angel ausgeführt werden können. Der britische Sozialwissenschaftler Ronald E. Purser prägte dafür den Begriff „McMindfulness“ und kritisierte damit die Kommerzialisierung und Entpolitisierung der Achtsamkeit im Westen. So leiten heute Apps durch kurze 5-5inütige Meditationen und messen Erfolg und Regelmäßigkeit, Amazons Alexa beherrscht Übungen wie den Bodyscan, den man kurz vor dem Einschlafen einfach laufen lässt und sich so in den Schlaf konzentriert und Bücher propagieren achtsame Spaziergänge in denen man versucht mal nur im Hier und Jetzt zu sein.
Eine kurze Geschichte der Meditation
Schmidt zeichnet eine grobe Geschichte der asiatischen Meditation im Westen. Es beginnt in Südostasien: Im Theravada-Buddhismus spielte Meditation ursprünglich keine zentrale Rolle. Erst Reformer wie Anagarika Dharmapala aus Sri Lanka und Ledi Sayadaw aus Myanmar stellten im 19. Jahrhundert die Meditation ins Zentrum buddhistischer Praxis und unterrichteten auch Laien. So wurde die Vipassana-Meditation geboren, die sich später auch im Westen verbreitete.
Auch auf den Zen-Buddhismus kommt Schmidt zu sprechen. Dieser wurde unter anderem von Daisetz T. Suzuki in den USA sowie von Graf Karlfried von Dürkheim und Eugen Herrigel in Deutschland bekannt gemacht. Schmidt betont, dass das Wort „Achtsamkeit“ im Zen kaum vorkam, bis Thich Nhat Hanh es in den 70ern damit verknüpfte.
Gewinne eine von drei Ausgaben „Viel Lärm um Achtsamkeit“
ISBN-13: 978-3-466-37315-4
ISBN-10: 3466373158
Seitenzahl: 224 Seiten
Erschienen im Kösel Verlag/Juni 2024
Das deutsche Wort der Achtsamkeit im Vipassana
Tatsächlich war es ein deutscher Vipassana-Mönch, der den Begriff „Achtsamkeit“ aus der altindischen Sprache Pali übersetzte. Der in Hanau geborene Siegmund Feninger ordinierte in Sri Lanka als einer der ersten Deutschen in einem buddhistischen Kloster und widmete sich der Übersetzung der alten Schriften. Im Zen hingegen wurden die japanischen Begriffe nie mit „Achtsamkeit“ übersetzt; hier ist vielmehr von Konzentration, dem „Zazen-Geist“, Natürlichkeit und dem Überwinden des logischen Verstandes die Rede, um zu „Satori“ zu gelangen – der plötzlichen Erleuchtung.
Kritische Perspektive auf Schmidts Darstellung
Man kann nicht sagen, dass Schmidt die Geschichte der Achtsamkeit inkorrekt erzählt, aber er lässt wichtige Details weg, um seine Thesen zu stützen. So waren es nicht erst moderne Vipassana-Mönche, die Meditation ins Zentrum der buddhistischen Praxis rückten, sondern der Buddha selbst, der durch Meditation Erleuchtung fand und der Legende nach auch in Meditationshaltung verstarb. „Ebenfalls fehlt das Bekenntnis zur Bedeutung hinduistischer Yogis und Gurus wie Yogananda oder Vivekananda für die Meditationsbewegung – auch wenn natürlich die Beatles mit ihrem Aufenthalt im Ashram von Maharishi Mahesh Yogi kurz Erwähnung finden.“ Eine Rückschau auf die Geschichte der Achtsamkeit und der Meditation kommt ohne Bezugnahme auf indische Yogis nicht aus. Mit diesen Fakten im Hinterkopf, erhält man in den Kapiteln zur Geschichte einen lesenswerten groben Überblick.

Von den Beats bis zu Kabat-Zinn
Im weiteren Verlauf des Buches lernt man über den Export der Achtsamkeit in den Westen: von den „Beats“ – einem Zirkel bedeutender Schriftsteller in den USA der 50er-Jahre – über die Hippie-Bewegung bis hin zu den ersten Meditationszentren in den USA. Schließlich kommt der Autor zu dem Mann, der heute als Vater der medizinisch indizierten, säkularisierten Achtsamkeit gilt: Jon Kabat-Zinn. Dieser studierte Molekularbiologie am MIT in Massachusetts und kam schon während seines Studiums mit verschiedenen Meditationspraktiken in Kontakt. Seine wissenschaftliche Herangehensweise, Studien mit Patienten an der University of Massachusetts Medical School sowie seine tiefe Meditationspraxis führten zur Entwicklung des MBSR-Programms (Mindfulness-Based Stress Reduction), das heute einer der Standards im medizinischen Bereich ist.
Im Buch entsteht der Eindruck, dass Kabat-Zinn das religiöse Element entfernt habe, um Achtsamkeit besser vermarkten zu können. Dass er dies jedoch tat, um überhaupt im medizinischen Kontext Gehör zu finden, geht leider etwas unter. Diese pragmatische Herangehensweise wird bei Schmidt schnell als Kommerzialisierung gewertet.
Einseitige Darstellung?
Viele Details, die die Entwicklung der Achtsamkeit als logische Folge ihrer Integration in den Westen erklären, stellt Schmidt eher als Gegensätze dar – was er fairerweise auch eingangs betont. Das erleichtert zwar das Verständnis, kann jedoch bei Leserinnen und Lesern ohne Vorkenntnisse den Eindruck erwecken, Achtsamkeit sei widersprüchlich oder uneinheitlich.
Die gegensätzliche Sichtweise vieler Praktizierender lässt sich mit dem Sprichwort „Viele Wege führen nach Rom“ zusammenfassen: Trotz unterschiedlicher Methoden führen die Praktiken oft zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei integriert jeder Mensch diese Erfahrungen auf individuelle Weise, geprägt durch seine eigene Wahrnehmungswelt und Persönlichkeit.
Trotz aller Unterschiede haben viele Meditierende – wie etwa Mathieu Ricard – gezeigt, dass Meditation nachweisbare Veränderungen im Gehirn hervorrufen kann. Mehr dazu ist natürlich im Buch nachzulesen, oder im unten verlinkten Youtube-Video.
Achtsamkeit als Werkzeug – für alle?
Schmidt untersucht die zunehmende Kommerzialisierung der Achtsamkeit in unserer postmodernen Gesellschaft. Er kommt zu dem Schluss, dass Achtsamkeit missbraucht werde, um Menschen zu effizienteren Arbeitskräften zu machen. Diese Kritik ist berechtigt, hat aber auch eine andere Seite, die im Buch zu kurz kommt. Jon Kabat-Zinn etwa wurde dafür kritisiert, dass er auch Soldaten in Achtsamkeit unterrichtete. Das Argument lautete, eine Effizienzsteigerung im Töten sei ethisch nicht vertretbar – schließlich lässt praktizierte Achtsamkeit unter Umständen einen Scharfschützen entspannter sein Ziel ins Visier nehmen. Er entgegnete, dass Achtsamkeit jedem Menschen offenstehen sollte – gerade auch Kriegsveteranen, die mit posttraumatischen Belastungsstörungen, Verletzungen und Stress zu kämpfen haben.
Damit ist das Feld für die Auseinandersetzung der beiden Verständnisebenen von Achtsamkeit bereitet. Jakob Schmidt ist aktiv bei der deutschen Grünen Partei und verfügt damit über ein politisches Interesse – eher links, aber mit Sicherheit pazifistisch –,welches er wohl in der heutigen Achtsamkeits-Szene vermisst. Man merkt, dass für ihn Kapitalismus und Effizienzsteigerung am Arbeitsplatz nichts mit Achtsamkeit zu tun haben. Ja, diese sollte sich unserem postmodernen Kapitalismus gänzlich entziehen und klar Position beziehen, wohl eben in seinem Fall für grüne Themen wie Umweltschutz, Friedenspolitik und Kapitalismuskritik.
Andererseits lässt sich sagen, dass Achtsamkeit eben nicht politisch sein darf. Sie ist eine vorhandene Gabe, gleichzeitig ein Werkzeug und eine Möglichkeit, die Welt zu sehen – ohne politische Kategorie – es ist, wie es ist. Da Meditation inzwischen auch ohne Religion auskommt, ist sie eine Praxis, die wie Wandern oder Schwimmen jedermann zugänglich ist – auch dem schlimmsten Diktator (der dadurch aber womöglich weniger schlimm wird).
Auf welcher Seite man steht – politische oder unpolitische Achtsamkeit – muss jeder für sich selbst entscheiden. Hier bietet das Buch eine gute Einstiegsmöglichkeit, selbst kritisch zu hinterfragen wo man sich selbst sieht und wie die eigene Meditationspraxis in der Welt wirken sollte.
Gewinne eine von drei Ausgaben „Viel Lärm um Achtsamkeit“
ISBN-13: 978-3-466-37315-4
ISBN-10: 3466373158
Seitenzahl: 224 Seiten
Erschienen im Kösel Verlag/Juni 2024
Fazit: Einseitige Kritik, guter Einstieg
Man hat ein wenig das Gefühl, dass Schmidt selbst die Achtsamkeit für seine Kritik instrumentalisieren will. Ein Buch über die Schattenseiten verkauft sich eben besser als das tausendste Werk zur Achtsamkeit allgemein. Der Aufbau des Buches, die Auswahl der Beispiele und der Erzählbogen wirken ein wenig absichtlich so gestaltet, als dass sie Schmidts Thesen bestätigen.
Das fällt jedoch nur Leserinnen und Lesern auf, die tief in dem Thema stecken. Für alle anderen bietet das Buch eine interessante Einführung in die Welt der Achtsamkeit, kritisch, aber zugänglich. Wer jedoch wirklich verstehen will, was Achtsamkeit sein kann, sollte die im Buch dargestellten Perspektiven hinterfragen und sich ein eigenes Bild machen. Es ist eine umfassende Einführung für kritische Geister, die sich bislang noch nicht all zu intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt haben und auch für eine Gegendarstellung des Achtsamkeitshypes aufgeschlossen sind.