Das Ziel liegt am Weg
Kleine Schritte führen zum großen Glück. Sich selbst Gutes zu tun, kann so einfach sein: Gehen. Vom Spaziergang, um dem Alltag ein Schnippchen zu schlagen, der Pilgerreise, um Antworten auf die Fragen des Lebens zu finden, übers Weitwandern, um neue Perspektive zu finden bis hin zum Fernwandern, um nicht nur geografische Grenzen zu überschreiten.
Schritt für Schritt. Noch sind die Beine etwas schwer, die ersten Kilometer strengen an, beanspruchen die Muskulatur, die gerade erst warm wird. Doch dann stellt er sich ein, der Rhythmus, das fast schon meditative Einen-Fuß-vor-den-anderen-Setzen, die Regelmäßigkeit des Gehens und des eigenen Tempos. Im Vordergrund steht nun nicht mehr die Anstrengung – viel zu präsent ist die Waldluft, die in die Lungen strömt, durchsetzt von den würzigen Aromen der Pflanzenwelt. Die Ohren betäubt von der Stille und den wunderbaren Stimmen der Natur. Das Auge entspannt im Angesicht der Schönheit der Natur.
Nach wenigen Kilometern kommt nicht nur der Körper in Schwung, auch das Gehirn gerät in Bewegung, unser Denken wird flexibler, Perspektiven ändern sich, Blockaden lösen sich. Die Regelmäßigkeit der Schritte, das langsame, aber stetige Bergauf beruhigt den Geist. Sie Seele atmet auf. Mit jedem Höhenmeter kommt man dem Ziel entgegen, bis man schließlich vom Gipfel ins Tal blickt und so manche Sorge plötzlich klein und nichtig erscheint.
Gewaltige Folgen
Gehen (oder Bewegung im Allgemeinen) wirkt sich auf den Körper aus, stärkt das Herz-Kreislauf-System, schützt die Organe, regt die Verdauung an, hält die Gelenke geschmeidig und die Muskeln stark und straff.
Aber es hält auch kognitiv mobil, heute ist erwiesen, dass Gehen plastische Veränderungen in der Gehirnstruktur bewirkt, die Blutzirkulation im Gehirn verstärkt und die Bildung neuer Zellen unterstützt. Gehen hebt nachweislich die Stimmung und fördert gerade die Region im Gehirn, die für Lernen und Gedächtnis verantwortlich ist. Nicht zuletzt aus diesem Grund beflügelt das Gehen auch unser kreatives Denken. „Gehen hilft, mit allen Sinnen zu erfahren, da es das Gehirn auf so vielfältige Weise beansprucht“, schreibt der Neurobiologe Shane O’Mara in seiner populärwissenschaftlichen Abhandlung „Das Glück des Gehens: Was die Wissenschaft darüber weiß und warum es uns so guttut.“
Vom Spaziergang bis zum Fernwandern
Schneller, weiter, höher sollte in diesem Fall NICHT das Motto lauten. Und dennoch – nach oben hin sind keine Grenzen gesetzt. Gehen hilft schon im Kleinen, Mehrtages-, Weitwander- oder Fernwandertouren können Großes bewirken. Unter Mehrtagestouren versteht man Wanderungen, die zwei bis fünf Tage in Anspruch nehmen, ab sechs Tagesetappen spricht man von Weitwander-, ab 30 Tagesetappen von Fernwander-Wegen.
Abstand zum Alltag
Eine, die sich dem Mehrtages- und Weitwandern verschrieben hat, ist die Welserin Claudia Schallauer. Ihre Liebe zum Wandern besteht schon lange, mit der Zeit wuchs aber die Sehnsucht, sich ganz auf das Gehen konzentrieren zu können, ohne stressige An- und Abreise, Parkplatzsuche, den ganzen Tag von früh bis spät nutzen zu können. Ihre Weitwander-„Karriere“ startete Claudia Schallauer ausgerechnet am Luchstrail, der mit elf Tagesetappen und bis zu 1.300 Höhenmetern sowie reinen Gehzeiten von mehr als acht Stunden je Etappe schon einiges abverlangt.
Was ist die Motivation, solche Anstrengungen auf sich zu nehmen? Für Claudia Schallauer sind es mehrere Gründe: „Mein primäres Motiv ist es, mich selbst und meine Persönlichkeit weiterzuentwickeln. Außerdem ist mein Interesse groß, Österreich zu erkunden, die einzelnen Regionen mit ihrer Landschaft, ihren Gegebenheiten und den Menschen, die dort leben, kennenzulernen. Ganz nach dem Motto: Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich. Außerdem ist für mich das Wandern mit Freunden Qualitätszeit, die man viel intensiver erlebt als zum Beispiel einen gemeinsamen Strand- oder Städteurlaub.“
Und ein wenig ist es darüber hinaus die Motivation, die eigenen Grenzen auszutesten und auch einmal zu überschreiten. „Eine solche Erfahrung bleibt in Erinnerung. Wenn ich vor einer großen Herausforderung stehe, sage ich mir: Den Luchstrail habe ich auch geschafft! Das gibt Selbstvertrauen und Kraft, auch alles andere im Leben zu meistern.“
Eine Weitwanderung ist nur so gut wie ihre Vorbereitung
Denn herausfordernd ist eine Weitwanderung allemal und das beginnt bereits in der Vorbereitung: „Zuerst muss ich die grundlegende Entscheidung treffen: Will ich alles selbst organisieren und damit im höchsten Maße flexibel bleiben oder lege ich die Organisation in professionelle Hände? Welcher Typ bin ich? Möchte ich es einfach halten oder mir auch ein wenig Komfort und Luxus gönnen?“, weiß Claudia Schallauer. Sie hat bereits sämtliche Möglichkeiten getestet: Von der selbst geplanten Tour mit dem gesamten Gepäck am Rücken bis hin zur organisierten Tour samt Übernachtungen im Vier-Sterne-Hotel und Gepäcktaxi. „Mir persönlich macht es am meisten Spaß, wenn ich meine Touren völlig selbstständig und meine Tagesetappen flexibel einplanen kann.“ Eine frühzeitige Planung empfiehlt sich in jedem Fall: „Je mehr Ansprüche man – zum Beispiel an die Unterkunft – stellt, desto früher muss man in die Planung gehen, um die Unterkunft rechtzeitig zu reservieren!“
Wie die Tour geplant ist, davon hängt natürlich auch ab, wie der Rucksack gepackt wird. Trägt man sein Gepäck stets am Rücken, ist Minimalismus gefragt. „Das Um und Auf ist ein gutsitzender Rucksack, das macht sich insbesondere beim Bergabgehen bemerkbar! Zur Grundausstattung zählt natürlich Funktionswäsche und Shirts, je nach Dauer ein bis zwei Wanderhosen – ich bevorzuge immer lange Hosen, um gegen Zecken geschützt zu sein. Das Material für Outdoorbekleidung wird immer besser und leichter, ich empfehle, hier einmal in hochwertige Multifunktional-Teile zu investieren. Für die Abende und Nächte kommen noch Leggins und ein extra T-Shirt in den Rucksack sowie ein Paar Schuhe zum Wechseln, mein Tipp: Barfußschuhe!“
Beim Tagesgepäck rät Claudia Schallauer, sich vorab gut zu informieren, welche Hütten und Gastronomiebetriebe am Weg geöffnet haben: „Gerade außerhalb der Hochsaison haben einige Betriebe geschlossen. Darum immer genügend zu trinken einpacken. Das ideale Getränk für mich ist Wasser mit ein wenig Sirup oder Saft und etwas Salz.“
Ihren Erfahrungsschatz teilt Claudia Schallauer übrigens nicht nur auf ihrem Blog www.99erstemale.at/blog und diversen Facebook-Seiten rund ums Wandern: Im kommenden Frühjahr erscheint ihr Buch für Weitwander-Einsteiger. „Ich möchte damit die Menschen motivieren, herauszufinden, was ihnen Spaß macht, welcher Wandertyp sie sind.“ Als Einstieg ins mehrtägige Wandern empfiehlt sie übrigens den Johannesweg im oberösterreichischen Mühlviertel. Ebenfalls ans Herz legt sie uns den Lebensweg im niederösterreichischen Waldviertel. „Dieser Weg ist ideal für Menschen, die intensiv übers Leben und die einzelnen Phasen des Lebens reflektieren wollen.“
„Beten“ mit den Füßen
Im Kirchenlatein war der Pilger jemand, der aus religiöser Motivation eine Reise in die Fremde unternahm. In unserer Zeit sind es unterschiedlichste Gründe, die den Ausschlag geben, sich auf den Weg zu machen. Tägliche Reizüberflutung, Suche nach innerer Ruhe und Ausgeglichenheit bringen die Menschen dazu, loszugehen. Loszugehen, um anzukommen. Jedoch nicht an einem geografischen Ziel, sondern in sich selbst, in der eigenen Mitte. Die persönliche religiöse Überzeugung ist da sehr individuell. Und die Möglichkeiten unbegrenzt.
Diese Erfahrung haben auch Annemarie Gattermaier und Gisela Seifriedsberger gemacht. Gisela Seifriedsberger macht sich seit mittlerweile mehr als zehn Jahren zwei Mal im Jahr auf den Weg, konkret auf den Pilgerweg. Ein plötzlicher Impuls ließ sie im Jahr 2012 kurzerhand ihren Rucksack packen und das Pilgern für sich entdecken. So auch dieses Jahr: Im Mai machte sie sich zusammen mit Annemarie Gattermaier auf, den Franziskusweg zu erobern. Erst vor wenigen Wochen sind die beiden nach 14 Tagen und rund 300 Kilometern zurückgekehrt. Im Gepäck: jede Menge Erfahrungen, Erkenntnisse und Inspirationen. Für beide ist der Pilgerweg sinnbildlich für das reale Leben. „Oftmals weiß man nicht, wo der Weg eigentlich beginnt. Und auch das gehört dazu: dass man seinen Weg erst einmal suchen und finden muss“, beschreiben sie ihren Start in Assisi. „Mit der Zeit lernt das Auge, die richtigen Hinweisschilder zu erkennen, sie stechen richtiggehend ins Auge – irgendwann muss man nicht mehr suchen und alles wird leichter.“ Und schließlich führen alle Wege nach Rom, was in diesem Fall der Wahrheit entspricht: Ziel ist die Ewige Stadt.
Pilgerleben
Vertraut mit der Route und dem Ziel sind Annemarie Gattermaier und Gisela Seifriedsberger in echter Pilgermanier gestartet, ohne vorab Unterkünfte gebucht oder reserviert zu haben. „Es hat etwas Beseelendes, nicht genau zu wissen, wo man die Nacht verbringen wird. Oft weiß man im Leben auch nicht, was auf einen zukommt“, ist Annemarie überzeugt. Und Gisela ergänzt: „Es ist wichtig, das Vertrauen zu haben, dass alles gut wird, man am Abend ein Dach über dem Kopf haben wird.“
Die ersten drei Tage beschreiben die ambitionierten Pilgerinnen als die anstrengendsten: Anfangs ist das Gehen mental und körperlich fordernd, man hat noch so viele Gedanken im Kopf, spürt den ungewohnten Rucksack… Dieser gehört für sie unbedingt zum Pilgern dazu: „Die Last am Rücken ist sinnbildlich für die Last, die man durchs Leben trägt. Manchmal packt man sich einfach zu viel auf die Schultern – oder in den Rucksack.“ So lernt man rasch die Einfachheit und den Minimalismus zu schätzen. „Man erkennt, mit wie wenig man auskommen kann.“ Dies erfahren die beiden insbesondere in spartanischen, herkömmlichen Pilgerunterkünften, wie Einsiedeleien und kleinen Klöstern, in denen sie sich um Jahrhunderte in der Zeit zurückgesetzt fühlen.
Dabei steht bei ihnen nicht die Religion oder gar die Kirche als Institution im Mittelpunkt: „Man muss Religion und Spiritualität trennen.“ Pilgern ist die Möglichkeit, eine Geschichte zu verarbeiten, einen Weg zu gehen, der Leben abbildet: „Manchmal ist der Weg steil, manchmal unschön, manchmal voller Pracht. Genauso verläuft unser Leben. Am Pilgerweg lernt man, achtsam zu sein, um die Schönheiten zu genießen und, nicht unwesentlich, die richtige Abzweigung zu finden. Auch das ist eine Parallele zum Leben: Man läuft und läuft und übersieht dabei das Wesentliche.“
Pilgern ist ein Selbstfindungsprozess, Antworten ergeben sich auf die Fragen des Lebens, der Geist bewegt sich, die Seele kann heilen. Fixe Regeln dafür gibt es nicht: „Jeder muss für sich gehen, der eine mit, der andere ohne einen konkreten ‚Auftrag‘, der eine möchte alleine mit seinen Gendanken gehen, der andere im Gespräch oder gar in der Gemeinschaft einer Gruppe.“
Selbst wer alleine geht, ist beim Pilgern nicht einsam. Wegbekanntschaften treffen in den Herbergen wieder aufeinander, man teilt seine Geschichte, profitiert gegenseitig von Erfahrungen, lacht miteinander und vergießt vielleicht sogar die eine oder andere erleichternde Träne.
Das ist es auch, was für Annemarie Gattermaier und Gisela Seifriedsberger den Unterschied zum Mehrtages- oder Weitwandern ausmacht: „Pilgern ist beseelend. Es geht mehr um die Bewegung des Geistes als um die Bewegung des Körpers. Es ist die Energie, die am Weg liegt.“
Grenzen überschreiten
Ende der 1960er Jahre entstanden die ersten Europäischen Fernwanderwege, mit dem Ziel, Europa durch ein Wegenetz zu verbinden und für Wanderer „grenzenlos“ zu machen. Heute erstrecken sich zwölf Fernwanderwege mit insgesamt 60.000 Kilometern Länge über Europa. Der längste davon ist der E4: Auf einer Gesamtlänge von rund 10.450 km vernetzt er zehn Länder, von Gibraltar bis Zypern.
„Wäre Europa ein Wirbeltier, würde der E4 auf der Landkarte sein Rückgrat abbilden“, stellt Klaus Rafenstein fest, „darum steht dieser Weg auch für Rückgrat, für Aufrichtigkeit.“ Er ist einer, der den E4 so gut kennt, dass er ihn mit einem Augenzwinkern „seinen Freund“ nennt. Für den Weitgereisten und Weitgewanderten ist es insbesondere die Etappe, die entlang der Südküste Kretas führt, die ihn fasziniert: „Dieser Weg hat Kanten, es ist kein lieblicher Pilgerweg, es gibt hier auch Steige-Passagen, er ist wunderschön, mitunter aber auch heftig und bringt einen ans Limit.“
Diesen Weg hat Klaus Rafenstein so sehr zu schätzen und lieben gelernt, dass er auch andere an dieser Erfahrung, der Inspiration, die dieser zu bieten hat, teilhaben lassen möchte. „Ich habe mir selbst die Frage gestellt: Kann ein Weg Antworten geben? Und ja, das kann dieser Weg sehr wohl!“ In seiner Tätigkeit als Coach und Trainer bietet Rafenstein seit diesem Jahr die gemeinsame Bewältigung dieser E4-Etappe als Coachingreise an.
„Ich binde das Gehen an sich schon seit vielen Jahren in meine Seminare ein – bei einem Spaziergang in der Natur fällt es besonders leicht, neue Entwicklungsräume zu entdecken und Visionen zu erkennen. Kreislauf und Körper sowie festgefahrene Gedanken kommen in Bewegung. So verändert sich nicht nur der Blickwinkel, Blockaden können sich lösen und neue Ideen entstehen. Obendrein fördert Bewegung an der frischen Luft nachweislich die Kreativität und die Gesundheit, sorgt für gute Laune und neue Ideen“, erklärt er. Unter der Marke „Naturcoach“ (www.naturcoach.at) bietet er das Format „Walk&Talk“, um genau diesen Fluss in Bewegung zu setzen. Sechs Tage am E4 im Süden Kretas zu wandern und das Gehen mit Coachingelementen in der Natur zu verbinden ist nun die logische und etwas extremere Erweiterung.
„Mit dem ‚Schneckenhaus‘ am Rücken absolvieren wir 76 km in sechs Tagen. In dieser Zeit begegnet man mehr Schafen und Ziegen als Menschen. In Südkreta ist man fernab des Massentourismus, die vier Ortschaften, in denen wir Halt machen, sind klein und entzückend, zum Teil nur zu Fuß und mit der Fähre zu erreichen“, schwärmt Klaus Rafenstein.
Auch, was den Weg so besonders macht, ist rasch erklärt: „Die Weite und die Achtsamkeit. Der Weg verläuft immer am Meer, die Weite des Horizonts ist inspirierend. Und er ist ‚tricky‘ – man ist immer im Hier und Jetzt, da der Weg die Aufmerksamkeit einfordert. Das ist das beste Achtsamkeitstraining!“
Text: Doris Thallinger, Fotos:Claudia Schallauer, Annemarie Gattermaier, Gisela Seifriedsberger, Klaus Rafenstein