Zirkusluft zum Schnuppern
Text: Natalie Zettl
Fotos: Adobe Stock, Karo Just, www.kaindl-hoenig.com
Im Circus Trainings Centrum in Salzburg-Gnigl, kurz CTC, lernen Kinder und Erwachsene die Kunst des zeitgenössischen Zirkus von der Pike auf kennen. Und auch die Artisten des (in diesem Jahr coronabedingt abgesagten) Winterfests proben dort.
Die junge Frau bahnt sich gekonnt ihren Weg hinauf auf die Menschenpyramide – über die Knie, Hände und Schultern ihrer Kollegen. Ihr Blick ist konzentriert, ihre Haltung ganz gerade… Und schließlich steht sie oben, zwei Meter über dem Boden, und scheint fast zu schweben, so leicht wirkt sie. Mia Landauer ist eine von fünf Artisten der Gruppe, die seit Anfang 2020 an ihrem Stück C43H66N12O12S2 (kurz: CHNOS) trainiert – dabei aber wirkt, als würde sie dies schon ein Leben lang tun.
Zirkusschule der Superlative
Das Circus Trainings Centrum ist österreichweit einzigartig und zählt zu den renommiertesten Einrichtungen Europas, wenn man die Kunst des Zirkus erlernen möchte. Vor rund fünf Jahren startete das Projekt mit dem Zusammenschluss der Vereine „MOTA“ und „Zirkusschulen in Österreich“. Seit 2017 kann in Gnigl nach Herzenslust trainiert werden – und zwar stilecht unter der Zirkuskuppel. Das Zelt ist übrigens die Heimat des allerersten Winterfests aus dem Jahr 2001. Notiz am Rande: Wer sich dort zur Probe einfindet und plötzlich eine Katze sieht, sollte wissen: Das ist keine gekonnt fabrizierte optische Illusion eines Magiers in Ausbildung: Katze Lilly gibt es wirklich – sie wohnt im CTC und geht sowohl mit Artisten als auch mit Besuchern gerne auf Tuchfühlung.
Zirkus begeistert
Die drei Seelen des Projekts sind Evelyn Daxner-Ehgartner, Wolfgang Neumayer und Wilfried Haertl. Sie haben das CTC sowie den Verein MOTA ins Leben gerufen – aus einer besonderen Motivation heraus: „Zirkus soll begeistern – und zwar nicht in erster Linie das erlesene, elitäre Publikum, sondern die breite Masse“, so MOTA-Obmann Wolfgang Neumayer. „Es soll für jeden etwas dabei sein.“ Genauso vielfältig wie diese Ambition sind auch die Zirkusschüler: Vom dreijährigen Kindergartenkind bis zum Senior ist jeder im CTC herzlich willkommen. Man kann auf jedem Level einsteigen – und sich auch gerne von den erfahreneren Kollegen etwas abschauen: „Im Gegensatz zum Sport geht es beim Zirkus nicht um den Wettkampfgedanken“, erklärt Evelyn Daxner-Ehgartner. „Deshalb sind das Miteinander und der Zusammenhalt viel höher!“ Finanziert wird das Circus Trainings Centrum über die Kursgebühren der Mitglieder, Förderungen und Spenden – denn die Fixkosten des CTC sind hoch, wie Wilfried Haertl erklärt: „Viele unterschätzen, was so ein großes Trainingszentrum kostet – nicht nur an Ausstattung und Trainerhonoraren, sondern auch an Heiz- und Instandhaltungskosten.“
„Zirkus soll begeistern – und zwar nicht in erster Linie das erlesene,
Wolfgang Neumayer
elitäre Publikum, sondern die breite Masse“
Förderung von Talenten
Die langfristige Vision der Gründer ist es, Talenten eine professionelle Ausbildung zum Artisten zu ermöglichen. Diese Lehre ist zwar nach heutigem Stand in Salzburg noch nicht möglich – dafür muss man ins Ausland gehen –,
jedoch legen Teilnehmer des Circus Trainings Centrums einen soliden Grundstein, ihre Talente zu entfalten und Zirkus-Fähigkeiten zu erlernen. „Aktuell besucht der erste Schüler, der als kleiner Junge bei uns angefangen hat, eine professionelle Zirkusausbildung in Lyon“, erzählt Evelyn Daxner-Ehgartner und lächelt: „Das macht uns unglaublich stolz.“
Zurück zur Artistengruppe, die an CHNOS arbeitet: Fünf talentierte Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren bringen eine Mischung aus Tanzakrobatik, Kontaktimprovisation, zeitgenössischem Tanz, Partner- und Gruppenakrobatik auf die Bühne. Woher kommt der Name des Stücks? „C43H66N12O12S2 ist die chemische Formel für Oxytocin, das Bindungshormon“, erklärt Gruppenleiterin Heidrun Neumayer, künstlerische Leiterin des Vereins MOTA. „Dieser Einfall kam von den Artisten selbst – und ich finde, er passt gut zu uns.“ Heidrun Neumayer selbst wurde die Zirkuskunst allerdings nicht in die Wiege gelegt: „Ich komme eigentlich aus dem Bereich Leistungssport“, erzählt die 38-Jährige. „Angefangen habe ich mit Rhythmischer Sportgymnastik.“ Anschließend ließ sich die gebürtige Salzburgerin an der SEAD zur zeitgenössischen Tänzerin ausbilden. Während ihrer darauffolgenden Arbeit mit verschiedenen Kompanien, bei denen auch Circus-Artisten mit von der Partie waren, wurde der Traum vom Zirkus immer präsenter. „Aber als ich im besten Alter war, eine Zirkusausbildung zu absolvieren, war das noch nicht so ohne Weiteres möglich“, so Heidrun Neumayer. „Meine jungen Artisten haben diese Chance – und das macht mich glücklich.“
Geschichte von fünf Freunden
Die fünf CHNOS-Artisten Mia Landauer, Mirjam Pumberger, Melanie Klampfer, Jakob Katzlberger und Valentin Thalmayr finden im Cirque Nouveau ihre Leidenschaft – und planen, daraus professionelle Karrieren zu schmieden: Bereits im kommenden Frühjahr wird Valentin Thalmayr, der aktuell seinen Zivildienst leistet, sich als Erster bei verschiedenen Zirkusschulen bewerben. Ganz oben auf der Liste steht dabei Ésac in Belgien – aber auch eine Aufnahme an einer der renommierten Schulen in Schweden oder Frankreich würde für Freude sorgen. Trainiert wird 10 Stunden pro Woche, meist verteilt auf vier Tage. Wie dieses intensive „Hobby“ mit der Schule vereinbar ist? Schwierig, sind sich die Fünf einig – aber es ist machbar, wenn man es wirklich will. Heidrun Neumayer liebt die Arbeit mit den Jugendlichen: „Die Gruppe ist sehr homogen, die Energie passt sehr gut zusammen. Sie haben keinerlei Berührungsängste – was für dieses Alter durchaus nicht selbstverständlich ist. Und von ihnen kommt viel Engagement – auch, wenn ich einmal ausfalle.“ Durch die zeitintensiven Trainings sind die Fünf zu Freunden geworden, die auch außerhalb des CTCs viel miteinander unternehmen: „Beispielsweise bäckt Jakob mit den Mädels gern Kekse“, schmunzelt Heidrun Neumayer. Auf dem Winterfest 2020 hätte CHNOS mit drei Auftritten Premiere gefeiert; nach der coronabedingten Absage des Salzburger Zirkus-Festivals muss sich die Gruppe nun nach einem Ersatztermin umsehen. Heidrun Neumayer ist allerdings zuversichtlich: „Wir haben schon ein paar Ideen, wo wir auftreten könnten, und werden uns – je nachdem, wann wieder Veranstaltungen möglich sind – um einen neuen Premierentermin bemühen!“
„Wie ihr mich emotional berührt habt – das ist ein Geschenk.“
Aboulé
Berühren durch Emotion
Dass es beim Zirkus um viel mehr als das sportliche Können geht, beweist das allererste Feedback, das Heidrun Neumayers Gruppe im Sommer 2020 erhalten hat – und zwar von einer Seite, die zuvor noch nie mit Zirkus in Berührung gekommen war: Bei einem Trainingslager in Frankreich wohnte ein junger Mann aus Afrika namens Aboulé im selben Haus. Am letzten Abend lud die Gruppe ihn ein, die ersten zehn Minuten ihres frisch ausgearbeiteten Stückes zu sehen – obwohl diese, akrobatisch betrachtet, noch nicht allzu spektakulär waren, wie Heidrun Neumayer erklärt: „Bei einer guten Geschichte fängt man eben nicht mit dem Höhepunkt an.“ Die Fünf präsentierten also den Anfang ihres Stückes – und sahen sich unversehens einem Zuschauer gegenüber, der vor Rührung den Tränen nahe war: Aboulé beteuerte, noch nie etwas Vergleichbares gesehen zu haben, und gab das beste Feedback, das eine junge Artistengruppe sich wünschen kann: „Wie ihr mich emotional berührt habt – das ist ein Geschenk.“ Durch diese erste „Aufführung“ lernten die fünf Jugendlichen: Es geht im Zirkus nicht nur darum, einen perfekten Salto zu schlagen – mindestens genauso wichtig ist es, dem Publikum Emotionen zu vermitteln. Und die Tools dazu werden den CTC-Schülern an die Hand gegeben.
Was unterscheidet den Cirque Nouveau vom klassischen Zirkus?
Im Cirque Nouveau geht es um das Arbeiten mit dem eigenen Körper – zum Beispiel bei Shows aus den Bereichen Akrobatik, zeitgenössischer Tanz u.v.m. Im Gegensatz zum klassischen Zirkus werden im Cirque Nouveau üblicherweise keine Tiere vorgeführt!
Wer selbst Zirkusluft schnuppern möchte, kann sich online über die verschiedenen Kurse informieren – aktuell ist aber aufgrund großen Interesses mit Wartezeiten zu rechnen.
Mehr wie zum Beispiel das Interview von David Dimitri, dem künstlerischen Leiter des Winterfests, könnt ihr in der neuen Print-Ausgabe nachlesen.