„Wir müssen uns durch das Wurmloch trauen“
Mitteleuropas Wirtschaft steht vor einschneidenden Veränderungen, die nur gemeinsam gelöst werden können. Es braucht neue Ideen und Innovationen in den Unternehmen, aber vor allem Ko-Kreativität und das Denken abseits ausgetretener Pfade in einer immer komplexeren Welt.
Text: Dominic Schafflinger
Fotos: Adobe Stock, Kay Müller/PLUS, Martin Mader, Henrike Kessler, Mit Brille und Bart Podcast
„Was wir in den letzten zehn Jahren erlebt haben, ist eine extreme Beschleunigung des Faktors Arbeit in einer digitalisierten Welt. Die Probleme fangen dort an, wo man trotzdem weiterarbeitet wie zuvor“, erklärt Martin Mader, Leiter des Career Centers der Universität Salzburg, der in seiner Tätigkeit Unternehmen und deren Entwicklungen auf einer Meta-Ebene beleuchtet. Es gehe um die Hinwendung zum ko-kreativen Arbeiten, zu mehr Anpassungsfähigkeit und darum, sich des eigenen Siloverhaltens bewusst zu werden. Die wirtschaftlichen Herausforderungen Mitteleuropas sind unübersehbar: stagnierende Märkte, zunehmender Arbeitskräftemangel, Innovationsdefizite und steigende Staatsschulden.
„Statt die Mitarbeiter als Ressourcen zu verwalten, setzen innovative Unternehmen heute mehr und mehr auf ein Umfeld, das Kreativität und Zusammenarbeit fördert“, erklärt der Kölner Organisationsentwickler Thomas Böhlefeld. Durch diesen Wandel – weg von der Ellenbogenmentalität und hin zu einer kooperativen, lernenden Kultur – können Unternehmen nicht nur ihr Innovationspotenzial besser ausschöpfen, sondern auch Mitarbeitende längerfristig binden und sinnstiftende Arbeitsumfelder schaffen.
Den Blick aus dem Silo wagen
Das Siloverhalten ist ein altes Problem in Unternehmen, aber seine Auswirkungen werden heute deutlicher denn je. „Ähnlich wie im afrikanischen Märchen Anansi und die Weisheit, in dem der Spinnenmann Anansi die Weisheit in einem Tontopf einschließt, statt sie zu teilen, isolieren viele Mitarbeiter, Abteilungen und Organisationen ihr Wissen. Damit geht das Potenzial gemeinschaftlicher Ideenfindung verloren“, erklärt Organisationsentwickler Armin Ziesemer, der gerne auf Volksmärchen zurückgreift, um komplexe Zusammenhänge intuitiv fassbarer zu machen: „Abteilung heißt abteilen – wir schaffen damit Grenzen, die nicht existieren müssten.“ In der Praxis führt das zu einem Stillstand in der Zusammenarbeit und zu einem Verlust wertvollen Wissens. Thomas Böhlefeld will auf Silos jedoch nicht ganz verzichten: „Oft herrscht das Bild ‚die Silos müssen weg‘ vor. Aus meiner Sicht müssen die Abteilungen erst einmal dort, wo es sinnvoll ist, durchlässiger werden, um kreativen Austausch zu ermöglichen.“
Durchlässigkeit bedeutet, dass Wissen nicht in Abteilungen verschlossen bleibt, sondern zugänglich ist, um Innovation zu fördern. Ein gutes Beispiel für Böhlefeld ist der Telefonsupport mancher Unternehmen. Konfrontiert man die Mitarbeiter mit einer Beschwerde, werden oft lange Wege über Vorgesetzte genommen, Compliance-Regeln müssen eingehalten werden: „Oft haben die Mitarbeitenden im direkten Kundenkontakt die beste Lösung parat, können diese aber nicht anbieten, weil der Silo der Führungsetage dieses Wissen gar nicht anzapft.“ Für Unternehmen bedeutet der Abschied vom Silodenken, eine Kultur des Austauschs zu schaffen und dem Konkurrenz- und Hierarchiedenken weniger Raum zu geben.
Wissen gemeinsam nutzen
Den Silo zu öffnen, scheint jedoch nicht genug zu sein, denn Unternehmen müssen die neuen Möglichkeiten, die daraus entstehen, auch nutzen. Mit ko-kreativem Arbeiten können unterschiedliche Fachdisziplinen und Perspektiven zusammengeführt werden, um gemeinsam Lösungen und neue Ideen zu entwickeln. „Dafür braucht es ein Mindset, das auf die Kooperation und den gemeinsamen Erfolg aller abzielt. Gerade junge Arbeitnehmer suchen im Job einen Purpose, einen höheren Zweck, um Leistung zu erbringen. Es hilft also erst einmal, sich als Unternehmen bewusst zu werden, welchen Beitrag man für die Gesellschaft leistet“, erklärt die Career Center Mitarbeiterin und frühere SCRUM-Masterin Alexandra Fischl. Mitarbeitende müssen die Bedeutsamkeit ihres eigenen Handelns erfahren und wollen Kompetenz und Verantwortung. „Ko-Kreativität beginnt damit, Compliance-Regeln zu reflektieren und Denk-Freiräume zu schaffen“, so Martin Mader.
„Man kann anfangs nicht das ganze Unternehmen mitreißen; wer solche Modelle ausprobiert, ist auf die ‘Prime Mover’ in der Belegschaft angewiesen. Das sind im Durchschnitt 10 %, und man muss eine kindliche Einstellung mitbringen, in der gemeinsam gestaunt wird und jede Idee erstmal willkommen ist“, erklärt Armin Ziesemer: „Ich benutze in den Unternehmen, die ich berate, oft das Gesetz der ‘zwei Füße’. In den firmeninternen Thinktanks darf kommen und gehen, wer will, auch mitten in einer Besprechung. Wenn jemand das Gefühl hat, er kann nichts mehr beitragen, ist er vielleicht gerade jetzt effizienter an einem anderen Ort. Man muss auch einsehen, dass gezwungene Meetings oft viel Zeit und Ressourcen verschwenden. Das ist gerade für Führungskräfte eine harte Einsicht.“ Damit sich Ko-Kreativität bei zukünftigen Generationen vielleicht einmal als Standard durchsetzt, plant die Uni Salzburg 2025 eine gezielte Projektinitiative, in der ko-kreatives Arbeiten langfristig auch in den studentischen Alltag integriert wird. Studierende arbeiten disziplinübergreifend an verschiedenen Projekten und unterstützen sich gegenseitig über die Projekte hinweg. „Es geht darum, dass zukünftige Führungskräfte schon während der Ausbildung lernen, in gemischten Teams kreative und nachhaltige Lösungen zu erarbeiten.“ Psychologisches Empowerment – die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Bedeutsamkeit und Einflussnahme – ist zentral für die Zufriedenheit der Mitarbeitenden, und dieses fördert nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Innovationskraft.
Agilität als Weg zur Flexibilität
„Die kollektive Intelligenz und Kreativität aller Mitarbeitenden ist das Rüstzeug, um sich den immer schneller werdenden Entwicklungen als Organisation anzupassen. Umgesetzt werden muss es dann agil durch das Verbinden aller beteiligten Perspektiven“, erklärt Thomas Böhlefeld. Das Prinzip der Agilität entstammt der Softwarebranche und beschreibt eine flexible Arbeitsweise, die sich durch kurze Planungs- und Umsetzungszyklen auszeichnet. Agilität ist jedoch längst kein exklusives Modell für IT-Abteilungen mehr. „In Salzburg haben wir viele Hidden Champions, wie das Unternehmen hotelkit und First Mover wie Raiffeisen. Diese Unternehmen bringen nicht ein Produkt oder eine Dienstleistung fertig ausgearbeitet an den Kunden, sondern entwickeln in kurzen, regelmäßigen Zyklen und holen dabei kontinuierlich Feedback ein“, erklärt Alexandra Fischl. Dadurch ist man näher an den Bedürfnissen des Kunden und kann sich an wandelnde Ansprüche anpassen. Entwicklungen werden damit früher wahrgenommen, und man ist am Puls der Zeit. Agilität erfordert Mut und die Bereitschaft, laufend zu hinterfragen und zu verbessern.
Durch das „Wurmloch“
Die Überwindung traditioneller, isolierter Managementansätze hin zu einem offenen, ko-kreativen und agilen Arbeiten verlangt viel: eine experimentierfreudige Kultur, Offenheit für Wandel und die Bereitschaft, die eigene Weisheit in einem neuen, gemeinsamen Raum zu entfalten – und ein ebenbürtiges Menschenbild. Der Wandel ist nicht nur möglich, sondern dringend notwendig, um die wirtschaftlichen Herausforderungen Mitteleuropas zu bewältigen und eine wettbewerbsfähige, innovative und nachhaltige Zukunft zu sichern. Armin Ziesemer und Thomas Böhlefeld nutzen in ihrem Podcast „Mit Brille und Bart“ gerne die Metapher des „Wurmlochs“. Dieses beschreibt den Transformationsprozess, der notwendig ist, um den Weg von alten, isolierten Arbeitsweisen hin zu offenen, dynamischen Modellen zu beschreiten und den anhaltenden Erfolg für alle langfristig zu sichern. „Auch wenn es Angst bereitet und man nicht weiß, wo man eigentlich wieder herauskommt, wir müssen durch das Wurmloch – neue Haltungen und eine Experimentierkultur sind erforderlich, um sich aus Erstarrungen zu befreien“, so Ziesemer.