Tango, eine Welt für sich

Text: Andrea Maurer

Fotos: Michael Maro Walter

Tango Argentino kam vor rund einem Jahrhundert nach Europa und blieb. In Salzburg gibt es seit Jahren eine aktive Szene, die Tangokultur lebt und teilt.

Es ist eine sternenklare, nicht allzu kalte Halbmondnacht. Von herbstlicher Sofastimmung ist wenig zu spüren. Der Sommer wirkt nach. Mein letztes Stück Weg führt, flankiert von hunderten kleinen Schlössern, über den Makartsteg. Verliebte haben der Brücke ihre Hoffnung auf Ewigkeit anvertraut. Aus dem nahen AVA-Hof ist Tangomusik zu hören. Das straßenseitige Lavazza Café hat sich, wie jeden Samstagabend, in eine Tango-Bar verwandelt. Die vom Verein „Tango Amphitheatrum“ veranstaltete wöchentliche Milonga, Tango-Tanzveranstaltung, gehört seit Jahren zum Nachtleben in der Salzburger Altstadt. Obfrau Monika Schandl, die als herzliche, verlässliche Gastgeberin fungiert, ist eng mit Tango verbunden, mit seiner Geschichte hat sie sich intensiv beschäftigt.
Ab 1880 machten sich Millionen Menschen auf den Weg nach Argentinien. Am Río de la Plata, in den Hafenstädten Buenos Aires und Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, strandeten Migranten aus ganz Europa. Es waren hauptsächlich Männer, die es riskierten, sich in einer neuen Welt zu behaupten. In einem Klima vielfach enttäuschter Hoffnungen, Arbeitslosigkeit, dem Verlust von Heimat und Beziehungen, in dem die Sehnsucht nach Nähe oft nur in Form von bezahlter Liebe zu stillen war, entwickelte sich Tango. Als Musik, Tanz, Poesie, Dialog. „Unter anderem durch Frauenmangel tanzten die Männer vorerst unter sich, kreierten ihre eigenen Schritte“, weiß Monika Schandl zu berichten. „Jeder wollte etwas aus seiner Kultur einbringen. Musik und Tanz waren wichtige Kommunikationsformen. Die Landessprache musste ja oft erst erlernt werden.“ Tango als Paartanz zwischen Mann und Frau sei erst in weiterer Folge entstanden. In der gehobenen Gesellschaft Argentiniens galt Tango lange als verrucht. Erst als ihn das feine Paris für sich entdeckte, wurde Tango Argentino auch im eigenen Land salonfähig. Seine Beliebtheit war nicht mehr zu stoppen, seine Sprache wurde weltweit gelernt.

Tango – mit den Beinen einer Frau auf den Boden malen
Einander so nah zu begegnen, erfordert Gefühl und Haltung. Im klassischen Tango Argentino sprechen zuerst Blicke. Sie entscheiden über einen gemeinsamen Tanz oder lehnen ihn ab. Die Zustimmung erfolgt über ein Kopfnicken, den sogenannten „cabeceo“. Nach diesem „Ja“ betritt man die Tanzfläche. Der Moment gegenseitiger Annäherung gehört bereits zum Tanz, mit oder ohne „cabeceo“. Francine Pérès und Franz Schneider verbindet nicht nur eine Tangopartnerschaft, sie sind auch ein Paar. Gemeinsam haben sie 1998 Tangobegeisterung in Salzburg ausgelöst. Nach ihrem Auftritt bei einem Geburtstag war kontinuierlicher Unterricht gefragt. Die in Marokko geborene und in Frankreich aufgewachsene gelernte Tänzerin Francine und der gebürtige Bayer Franz Schneider, der seine Tangoleidenschaft in Berlin entdeckt hatte, begannen in Salzburg Tango zu unterrichten. Im heute bereits „legendären“ Marmorsaal des alten Salzburger Hauptbahnhofes veranstalteten sie Milongas mit Live-Orchestern. „Drinnen wurde getanzt, während draußen die Züge vorbei fuhren.“ Diese Atmosphäre war wie geschaffen für Tango.
Melancholie ist für Francine allerdings nicht die Triebfeder für ihre Tango-Leidenschaft. Sie liebt das Spielerische, den feinsinnigen Dialog: „Ich lerne als Frau, wieder Frau zu sein und als Mann lerne ich, wieder Mann zu sein“, beschreibt sie die Wirkung von Tango und wird sofort präzise. „Der Mann führt die Frau, aber deswegen ist sie nicht passiv. Als Frau muss ich beim Tango sehr aktiv sein, denn ich bekomme nur Impulse. Diese Impulse nehme ich auf und gebe darauf eine Antwort.“ Francine schildert Tango als Verschmelzung. Durch Verschmelzung sei es möglich, unmittelbar zu reagieren und die Impulse des Mannes im eigenen Körper umzusetzen. Das gelinge allerdings nur, „wenn sich jeder in seiner eigenen Achse befindet“.
Die für Tango erforderliche „eigene Achse“ ist für Menschen aus dem 21. Jahrhundert nicht selten ein heikler Punkt. Meine Frage, ob nicht zuerst Physiotherapie notwendig sei, bevor man sich aufs Parkett wagen dürfe, erntet Lachen. Ich betrachte die Tanzpaare, die sich zum Üben getroffen haben. Sie wirken konzentriert, manche in sich versunken. Ehrgeiziger Tanzsport wird hier nicht ausgeübt. Auch werden keine Tanzgötter und – Göttinnen imitiert. Beruhigend!
Franz Schneider holt mich aus meinen gedanklichen Abweichungen zurück: „Tango ist oben ein ganz ruhiger Tanz, aber unten ist er sehr lebendig. Man hat viele Freiheiten.“ Deshalb heiße er auch „der Tanz der sprechenden Füße“. „Du wirst zu einem Wesen mit vier Beinen“, ergänzt Francine. Um sich solchen Höhenflügen zu nähern, muss zuerst das für Tango charakteristische „Gehen“ gelernt werden. Allein und gemeinsam und am besten nicht mit nur einem Partner.

Tango ist ein Tanz, der in einem Paar entsteht
Petra Nagenkögel, die den Verein „Prolit“ im Salzburger Literaturhaus leitet, verbringt oft mehrere Wochen in Buenos Aires. Nach Argentinien zieht es die Autorin seit Jahren. „Tango ist dort sehr präsent.“ Getanzt wird bis ins hohe Alter. Ihre eigene Annäherung an Tango Argentino beschreibt sie als eine intensive Auseinandersetzung mit der Musik. „Du merkst, dass diese Musik aus der Entwurzelung, aus zerrissenen Biografien kommt, das hat mich tief berührt. Berührt hat mich zugleich die Mischung. Zu erleben, wie viel entstehen kann, wenn Kulturen aufeinander treffen, wenn sie gezwungen sind, gemeinsame Kommunikationsformen zu finden – das alles ist Tango für mich.“
Im Salzburger Literaturhaus veranstaltet Petra Nagenkögel vierteljährlich unter dem Motto „otra milonga“ stimmungsvolle Tangoabende. Der eine und andere „Tango Nuevo“ gehört ebenso dazu wie eine Prise Experimentierlust. Für alle spontan Entschlossenen: Am 27. November, dem Erscheinungstag unserer druckfrischen Ausgabe, öffnet das Literaturhaus seine Tangotüren. Den traditionellen „cabeceo“ wird es nicht geben, winkt Petra lachend ab. „Bei uns wird direkt aufgefordert, Damenwahl inklusive.“ Der Sinn einer Milonga liege nicht darin, sie hierarchisch zu gestalten. Es gehe darum, Raum für Menschen zu öffnen, die Tango als Dialog erleben wollen. Als eine Reise in eine Welt für sich.

Wen das Tango-Leben in Buenos Aires in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts interessiert, dem empfiehlt Petra Nagenkögel den Roman von Edgardo Cozarinsky „Man nennt mich flatterhaft und was weiß ich…“ (Wagenbach Verlag)