Mal so richtig durchatmen

Atmen geht zwar von allein, doch wer seine Atmung bewusst lenkt, kann außergewöhnliche Leistungen erzielen, Krankheiten lindern und sogar sein Leben verlängern. Aber erst mal tief durchatmen.
Text: Dominic Schafflinger
Fotos: Carographie, Werner Streitfelder Photography, Adobe Stock, Piper Verlag

Der Atem ist die wichtigste Nahrung für die 37 Billionen Zellen, die unseren Körper bilden. Diese benötigen nur 20 bis 25 Prozent des eingeatmeten Sauerstoffs, um genug Energie zu erhalten, doch eigentlich geht es um so viel mehr beim Atmen, als einfach nur 10 Billiarden Moleküle in und aus dem Körper zu pumpen. Neueste Studien zeigen, wie die Atemfrequenz unser Nervensystem beeinflusst und die Art, wie wir atmen, die Gesundheit bestimmt. Sogar das Funktionieren unseres Hirns bis hin zu transzendenter Erfahrung ist eng mit der Art, wie wir atmen, verbunden. Der Journalist James Nestor bewies in zahlreichen Selbstversuchen für seinen Bestseller „Breath. Neues Wissen über die vergessene Kunst der Atmung“, wie falsches Luftholen zu nächtlichen Erstickungsanfällen führt und sogar Knochenmasse abbaut.

Wir verlosen 3 x 1 Ausgabe von „Breath. Neues Wissen über die vergessene Kunst der Atmung“ von James Nestor.

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Wunderwerk Nase

„Wer viel vor Bildschirmen sitzt, der sollte vor allem auch hier auf die richtige Atmung achten. Die Wissenschaft beobachtet bei vielen Menschen Screen-Apnoe, also regelmäßige Atemaussetzer durch die komplette Aufmerksamkeit auf den Bildschirm.“ – Eric Harbour, PhD forscht an der Universität Salzburg im Fachbereich Sport- und Bewegungswissenschaften zum Thema Atmung

„Keine Sorge, nachdem wir noch leben, atmen wir im Großen und Ganzen alle richtig“, beruhigt Eric Harbour von der Universität Salzburg. Der US-amerikanische Wissenschaftler forscht seit Jahren in Sachen Atmung: „Trotzdem atmen viele Menschen in bestimmten Situationen falsch, beispielsweise wenn sie an Schlafapnoe, Asthma oder chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen leiden. Auch wenn der Auslöser nicht falsche Atmung ist, stehen Symptome und deren Linderung mit der Art, wie wir atmen, in direktem Zusammenhang. Eine Atemtherapie kann weiters bei Nackenschmerzen oder Spannungskopfschmerz sowie bei psychischen Erkrankungen wie Angstzuständen, Panikattacken oder posttraumatischem Stress Wunder wirken.“

Harbour und Nestor sind sich einig, dass die Nasenatmung das wichtigste Gesundheitstool ist, denn sie wärmt die Atemluft vor, Nasenhaare filtern den Staub und an der Schleimschicht bleiben Bakterien und Viren kleben, die so gar nicht erst in den Organismus kommen. Die spezielle Form der Nasenmuschel-Knochen in der Nasenhöhle dient gezielt dazu, den Druck der Atemluft zu erhöhen und diese so zu verdichten, dass die Lunge sie optimal verarbeiten kann.

Es ist sogar möglich, während körperlicher Belastung mit niedriger und mittlerer Intensität durch die Nase zu atmen und dabei die damit verbundenen Vorteile aufrechtzuerhalten, erklärt der Sportwissenschaftler: „Ich habe mir antrainiert, bis zu 85 % meiner maximalen Herzfrequenz durch die Nase zu atmen. Wer gesund ist und sich im Training weiterentwickeln möchte, muss aber immer wieder Einheiten absolvieren, in denen er über diesem Wert liegt. Da wird die Nasenatmung fast unmöglich. Wer behauptet, er atme auch beim Sport immer durch die Nase, der trainiert einfach nicht hart genug.“

„Atmung ist der direkte Zugang zu Körper, Geist und Seele“

Unsere Atmung wirkt nicht nur auf den Körper, sondern auch vor allem auf unsere Psyche. Christian Schütz erlebte das 2017 am eigenen Leib. Er stand beruflich unter hohem Druck und litt unter schlechtem Schlaf und Orientierungslosigkeit. Irgendwann ließ er sich überreden, einen Wim-Hof-Workshop zu besuchen, der sein Leben veränderte: „Meine erste Wim-Hof-Breathing-Session war transformativ. Nach wenigen Wochen spürte ich: Ich schlafe tiefer und denke klarer.“ Heute ist er Mentaltrainer und fortgeschrittener Wim-Hof-Instruktor.

„Atmung ist ein direkter Zugang zu Körper, Geist und Seele“, erklärt Schütz. Wim-Hof Basic-Breathing besteht aus 30 bis 40 kraftvollen Atemzügen, gefolgt von bewusstem Atemanhalten und abschließender sanfter Erholungsatmung. Anfangs bringt die dynamische Mundatmung den Körper in einen „Fight-or-Flight“-Modus, der Adrenalin und Cortisol ausschüttet. Das Luftanhalten schärft den Fokus und erhöht die CO₂-Konzentration, und die langsame Erholungsatmung senkt dann Herzfrequenz und Muskelspannung, um das parasympathische Nervensystem und damit das körpereigene Entspannungspotenzial zu reaktivieren.

„Die Übung hat unglaublich positive Auswirkungen auf unser Stressmanagement und die Konzentration, außerdem führt sie oft zu tranceähnlichen Zuständen, in denen Teilnehmer Zugriff auf ihr Unterbewusstsein bekommen. Deshalb sollten solche Sessions anfangs in sicherer Umgebung unter professioneller Anleitung stattfinden“, so Schütz. „Wer sie regelmäßig übt, bei dem stellt sich auch die alltägliche Nasenatmung ganz von selbst ein.“

Der Rekord im statischen Apnoetauchen liegt bei 11 Minuten und 35 Sekunden. Apnoetaucher nutzen dafür fortgeschrittene Techniken wie das Power-Breathing.

Anti-Aging-Tool

Aber Wim Hof entwickelte seine Atemtechnik nicht gänzlich selbst, der Weltenbummler erlernte sie in Tibet. Dort wird diese Atemtechnik ‚Tummo‘ oder Feueratmung genannt. Überhaupt werden in Asien wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden Atemtechniken kultiviert – zu spirituellen wie zu gesundheitlichen Zwecken.

In der chinesischen Qigong-Praxis setzt man als Einstiegsübung immer auf die tiefe, langsame Bauchatmung. „Diese ist anatomisch betrachtet auf jeden Fall der Brustatmung überlegen, da sie ein größeres Lungenvolumen ermöglicht. Wer so das Zwerchfell verstärkt trainiert, der kann kräftiger und tiefer atmen und erhöht somit die Atemkapazität“, schreibt James Nestor. Zusätzlich werden die Organe besser durchblutet, weil eine starke Bauchatmung sie stärker durchmassiert. Den chinesischen Weisen, die Qigong erfanden, ging es auch immer um langes und gesundes Leben, und die Wissenschaft gibt ihnen heute recht. Eine Langzeitstudie mit 5.000 Teilnehmern ergab, dass Lungenkapazität der stärkste Prädiktor für ein langes, gesundes Leben ist – noch vor Genetik oder Ernährung. Richtiges Atmen ist eine der effektivsten Anti-Aging-Maßnahmen.

Atmung, Herz und Vagusnerv

„Die Atmung ist bei Wim Hof das zentrale Element, die Kälte ein für mich willkommener Begleiter.“ – Christian Schütz, Mentaltrainer und Wim-Hof-Instructor

In Yoga-Atemmeditationen wird oft darauf geachtet, die Ausatmung zu verlängern. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen auch hier, dass eine Verzögerung der Ausatmung die Stresshormone Cortisol und Adrenalin spürbar senkt. „Wer länger ausatmet als einatmet, aktiviert gezielt den Parasympathikus“, erklärt Harbour und erinnert an einen Spruch, den ihm ein neuseeländischer Kollege mitgab: „When in doubt, breathe out.“ – So lassen sich durch gezieltes langes Ausatmen nachweislich bessere Entscheidungen treffen.

Allerdings kommt es auch auf den richtigen Rhythmus an. Zwischen fünf bis sechs Atemzügen pro Minute synchronisiert sich der zunehmende und abnehmende Druck im Abdomen, also im Bauchraum, der auf den Vagusnerv drückt mit der Entladungsfrequenz des Nervs. Je genauer beide zusammenspielen, desto höher wird die Herzratenvariabilität – und die ist ein weiterer Indikator für einen gesunden, leistungsfähigen Körper. „Wer über eine Pulsuhr und App verfügt, kann den Unterschied sofort messen“, versichert Harbour.

Der Atem – dein stärkstes Werkzeug

Bewusste Atmung kostet nichts, ist immer verfügbar und wirkt auf jeden Bereich: Herz, Kreislauf, Nerven und Gehirnfunktion. Eric Harbour empfiehlt neben der allgemeinen Nasenatmung auch einen Yoga-, Qigong- oder Taijikurs: „Er ist ein guter Einstieg in das Thema und hilft, gemeinsam in der Gruppe am Atmen dranzubleiben.“

„Wer aber Feuer für die Atmung gefangen hat, der sollte Wim Hofs Power-Breathing oder andere fortgeschrittene Atemtechniken ausprobieren, denn wer sich auf das Abenteuer Atmung einlässt, kann viel mehr aus sich selbst herausholen, als er jemals geglaubt hätte“, empfiehlt Christian Schütz und taucht in ein Becken gefüllt mit Eiswürfeln.

Übungstipps

1. Resonanzatmung

• Ein- und Ausatmung gleich lang (z. B. 5 s Einatmung / 5 s Ausatmung)
• 5–6 Zyklen pro Minute, Dauer: 5 Minuten

Wofür: Fördert Entspannung, erhöht Herzratenvariabilität
und senkt akuten Stress.

2. Buteyko-Kurzatmung

• Ruhig ein- und ausatmen (Ein = Aus)
• Nach Ausatmung leichtes Luftanhalten (2–3 s), 5–10 Zyklen

Wofür: Erhöht CO2-Spiegel, verbessert Sauerstoffausschöpfung, unterstützt Asthma- und Schlafapnoe-Patienten.

3. Pingala-Boost

• Linkes Nasenloch verschließen, nur rechtes nutzen
• Ein- und Ausatmung gleich lang (z. B. 3 s/3 s), Dauer: 1–2 Minuten

Wofür: Steigert Energie und Wachheit, ideal vor Sport oder mentalen Herausforderungen.