Krankheit: Sucht

Der Grat ist schmal zwischen Genuss und Sucht. Viele Wege führen in die Abhängigkeit – manche auch wieder heraus.

Wir leben in einer Zeit und Gesellschaft, in der Wohlbefinden, die Suche nach Glück und Befriedigung sich überschneiden mit der Maxime „schneller, höher, weiter“. Auch geprägt durch Krisen wird das Hochgefühl als Ausgleich nahezu verbissen gesucht. Eine Konstellation, die umso mehr verführt, den schmalen Grat zwischen Genuss und Sucht zu überschreiten und das Hochgefühl, aber auch die Entspannung und Entschleunigung aus einem Leben, das uns (über-)fordert, mit diversen Hilfsmitteln zu suchen und finden. Zumindest für den Augenblick. Seien es Suchtmittel oder Verhaltensweisen, die – im Übermaß – zu Missbrauch und schließlich Abhängigkeit führen. Denn süchtig werden kann man von vielem: Alkohol und Nikotin, Drogen und Medikamenten, nach Glücksspiel, Internet und Social Media, nach Sex, Konsum und sogar nach Arbeit und Sport.

Wie kommt es aber überhaupt so weit? Dass etwas, von dem der Verstand weiß, wie schädlich, gesundheitsgefährdend und sogar potenziell tödlich es ist, eine so große Macht auf uns ausübt, dass wir nicht davon lassen können?

Was bedeutet Sucht?

Soviel vorweg: Es handelt sich um eine Krankheit, und zwar um eine „häufige, oftmals unterdiagnostizierte, gesellschaftlich relevante, chronisch rezidivierende, aber behandelbare Erkrankung“, wie Alexander Schorb, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Leitender Oberarzt im Bereich Suchtmedizin an der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität in Salzburg, zusammenfasst. Im Kontext Sucht sind zu unterscheiden: Zum einen eine mehr oder minder ausgeprägte Grundstörung mit zumindest zeitweise eingeschränkter Persönlichkeitsstruktur als wesentliche seelische Voraussetzung für die Entstehung einer Sucht. Und zum anderen das sogenannte Suchtsystem als in sich selbständiges Geschehen, das, mit zunehmender Dauer einer Abhängigkeit immer weniger von der Grundstörung abhängt und immer mehr körpergesteuert ist. Oder, ganz einfach wie Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste in Wien, in seinem aktuellen Buch „SUCHT“ den verstorbenen Prof. Stephan Rudas zitiert: „Wann spricht man von Sucht? Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt.“

Aspekte süchtigen Verhaltens

Starkes Verlangen, eine psychotrope Substanz zu konsumieren. Das starke Verlangen wird in der Fachsprache auch Craving genannt.

Kontrollverlust. Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.

Körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder von nahe verwandten Substanzen, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden.

Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz, im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.

Rückzug aus dem Sozialleben und fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.

Abstinenzunfähigkeit. Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.

Sind mindestens drei dieser Kriterien während des vergangenen Jahres vorhanden, spricht man von Sucht.

Dr. Alexander Schorb

Wie entsteht Sucht?

„Sucht entsteht nicht von heute auf morgen, es ist eine schleichende Entwicklung“, erläutert Alexander Schorb, „zunächst wird aus verschiedensten bewussten oder unbewussten Gründen konsumiert, wobei es aber langfristig zu neuronalen Sensitivierungsprozessen, also adaptiven neurobiologischen Veränderungen, einem Suchtgedächtnis, kommt, das die Funktionalität des Willens beeinträchtigt, selbst in Zeiten der Abstinenz.“

Bei der Entstehung einer Sucht spielen neben den biologischen Faktoren auch genetische Faktoren eine Rolle, wie familiäre Häufung, individuelle Reaktion auf eine Substanz im Belohnungssystem, unterschiedliche Verträglichkeit aufgrund des Geschlechts oder geographischer Herkunft sowie individuelle körperliche Reaktionen auf Stress.

„Leben bedeutet Abwechslung und Lebendigkeit. Wenn jemand nur ein oder wenige Mittel hat, um sich selbst Gutes zu tun, sich zu beruhigen, wenn jemand sehr in der Selbstverneinung ist, ist er sicher eher anfällig, etwas zu konsumieren oder missbrauchen, das ihn sich besser fühlen lässt“, erklärt Caroline Weinlich, therapeutische Leiterin der Suchthilfe Klinik Salzburg, den Weg in die Sucht aus psychologischer Sicht.

Caroline Weinlich, Therapeutische Leiterin der Suchthilfe Klinik Salzburg

„Das Leben sollte auf vielen Säulen aufgestellt sein. Je mehr Säulen ich in meinem Leben habe, desto weniger trifft es mich, wenn eine davon zusammenbricht.“ Aus jahrelanger Erfahrung in der Arbeit mit Suchtkranken sieht sie den Beginn einer Sucht stets in einem Mangel im System: „Man weiß, dass Leute, die suchtkrank sind, meistens an Grunderkrankungen leiden, oftmals an schweren Traumatisierungen, Depressionen oder Ängsten. Warum konsumiert man Suchtmittel? Weil man sich damit beruhigen, gefühlsmäßig stabilisieren kann. Man fühlt sich besser.“

Die psychologischen Erklärungsansätze beinhalten neben den psychoanalytischen möglichen Einschränkungen in der Persönlichkeitsstruktur, auch das lerntheoretische Erklärungsmodell: Dieses setzt die Persönlichkeitsentwicklung gleich mit Lernerfahrungen. Sucht wird als erlerntes Verhalten angesehen. Auch soziale und lebensgeschichtliche Bedingungen wie das Alter des Erstkonsums, das Milieu, Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung in Kindheit/Jugend oder soziale Isolation sowie geographische Lage, kulturelle Traditionen, Verhaltensnormen, Gesetze, Kosten, Verfügbarkeit spielen nach diesem Erklärungsmodell eine Rolle.

Welche Wege führen aus der Sucht?

„Die meisten Menschen, die erstmals im Suchtsystem andocken, tun dies aus Fremdmotivation. Sprich, sie verlieren den Führerschein, sehen ihren Arbeitsplatz in Gefahr oder der Partner/die Partnerin droht mit Trennung“, spricht Caroline Weinlich aus Erfahrung. Es braucht im ersten Schritt das Bewusstsein, dass etwas definitiv nicht mehr stimmt. „Die Anonymen Alkoholiker bezeichnen dies als ‚den tiefsten Punkt erreichen‘. Das bedeutet nicht automatisch, dass jemand auf der Straße landet, ein Tiefpunkt kann beispielsweise auch sein, dass sich das Enkerl nicht mehr auf den Schoß setzen will, weil der Opa/die Oma nach Alkohol riecht.“

„Wesentlicher Teil unserer Arbeit ist es, eine differenzierte dimensionale Diagnostik durchzuführen, aus der sich eine zielgenaue Behandlungsplanung ergibt. Oft ist auch eine Motivationsbehandlung erforderlich“, so Alexander Schorb und unterstreicht auch die Notwendigkeit, zieloffene Behandlungen anzubieten: „Nach der Abkehr vom Dogma der Abstinenz als Voraussetzung für eine Behandlung sind schadensmindernde Behandlungsformen und Reduktionsbehandlungen im Versorgungsspektrum nicht mehr wegzudenken.“

Text: Doris Thallinger
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