Dunkle Abgründe
der menschlichen Seele

Die Salzburger Festspiele bringen im August zwei selten gezeigte, neuinszenierte Opern russischen Ursprungs zur Aufführung: Weinbergs Der Idiot stellt die Umkehrung der allgemeinen Werte dar, während Prokofjews Der Spieler den erbarmungslosen Sturz in den Abgrund und die selbstzerstörerischen Tendenzen einer Spielsucht schildert. Die Felsenreitschule mit ihren dreigeschossig übereinander angelegten Arkaden dient als stimmungsvolle Kulisse, um das Publikum in die Zeit des russischen Zarenreichs an der Schwelle zur Moderne zu entführen.
Text: Susanne Rosenberger
Fotos: Luigi Caputo, Jan Friese, Ivan Balderramo, Olivia Kahler, Frans Jansen, Dominik Odenkirchen, Monika Rittershaus, SF/Anne Zeuner, Adobe Stock

Im Festspielprogramm 2024 bewegt sich das Publikum zwischen Himmel und Hölle, von den alten Mythen bis hinauf zu den großen Romanen der klassischen Moderne reichen die literarischen Vorlagen. Das Direktorium lädt dazu ein, die Fülle des Lebens und die Tiefe des menschlichen Herzens in den großen Werken der Kunst zu erkunden. Dies ermöglicht auch die Begegnung mit zwei Figuren aus dem Kosmos Dostojewskis – mit einem still aufbegehrenden Empathen und einem obsessiven, rastlos getriebenen Menschen, die beide den Nerv unserer Zeit treffen.

Zeitlos aktuelle Werke

Der russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski, geb. 1821 in Moskau, gab in insgesamt 35 Romanen einen profunden Einblick in die gesellschaftliche Situation im Russland des 19. Jahrhunderts und galt bereits zu Lebzeiten als eine veritable Größe der Weltliteratur. Seine Lebenserfahrungen verarbeitete er gerne in seinen Büchern, so findet etwa Dostojewskis schwere Epilepsie im Roman Der Idiot Projektion, während seine eigene Spielsucht in Der Spieler aufgegriffen wird.

In den 1940er Jahren sympathisierte der junge Dostojewski mit den Ideen des Frühsozialismus, weshalb er 1849 verhaftet und zunächst zum Tode verurteilt wurde. Das Gnadenurteil des russischen Zaren Nikolaus I. erreichte den damals bereits berühmten Schriftsteller erst kurz vor der geplanten Hinrichtung, sah jedoch vier Jahre Zwangsarbeit in Sibirien vor. Vor dem Hintergrund all dieser Erfahrungen ist es nicht verwunderlich, warum Dostojewskis vielschichtige Werke allesamt von Krisen, Konflikten, menschlichen Abgründen und einer tiefen Sinnsuche handeln. In seinen Romanen schuf der virtuose Erzähler tragikomische, aber auch sehr menschliche Figuren – wie beim spielsüchtigen Hauslehrer Alexej in Der Spieler und beim durch Mitleid entwaffnenden Fürsten Myschkin in Der Idiot zu sehen sein wird. Als herausragender Psychologe versuchte der Autor dabei, mit den Mitteln der Literatur die menschliche Seele sowie deren Zwänge und Befreiungen aufzuspüren.

Weder Glück im Spiel…

Für den unter Druck seines Verlegers in knapp vier Wochen entstandenen und fast improvisierten Kurzroman Der Spieler unterbricht Dostojewski im Herbst 1866 seine Arbeit an Schuld und Sühne, im Folgejahr 1867 erscheint Der Spieler in einer gesammelten Ausgabe seiner Werke. Die Geschichte spielt im fiktiven Ort Roulettenburg und zeichnet sich durch zwei überschneidende Handlungsstränge aus. Einerseits geht es um die Liebe des Protagonisten und Hauslehrers Alexej Iwanowitsch zu Polina, der Stieftochter des ehemaligen russischen Generals, andererseits um das Glücksspiel, die damit einhergehende Angst vor dem finanziellen und gesellschaftlichen Ruin und die Opfer, die diese Sucht mit sich bringt – ein Thema, das Dostojewski selbst lange Jahre wie eine Obsession beherrschte. Durch das plötzliche Erscheinen der reichen, todgewünschten Erbtante aus Moskau, die – kaum in Roulettenburg eingetroffen – fast ihr gesamtes Vermögen verspielt, erreicht der Roman einen tragikomischen Höhepunkt, indem sich alle Hoffnung auf die Erbschaft ihres beträchtlichen Vermögens plötzlich in Luft auflöst.

… noch in der Liebe

Warum Dostojewskis Romane erst im 20. Jh. den Weg auf die Opernbühne fanden, lässt sich wohl dadurch erklären, dass sie sich durch die Fülle an Personen, verwobene Handlungsstränge und eine komplexe Ideenführung nicht als Libretto-Vorlage eignen. Der junge Komponist Sergej Prokofjew war jedoch von Dostojewskis Kurzroman sogleich fasziniert, in nur fünfeinhalb Monaten schrieb er seine erste große Oper und porträtiert damit eine dekadente Gesellschaft im Rausch, die sich selbst aufs Spiel setzt. Durch die Oktoberrevolution 1917 musste die Uraufführung abgesagt werden, erst 1929 wurde schlussendlich eine überarbeitete Fassung in französischer Sprache in Brüssel zur Aufführung gebracht.

Rausch und Selbstbetrug

Bei den Salzburger Festspielen steht Prokofjews Der Spieler heuer erstmals auf dem Spielplan und weist dabei eine verblüffende Relevanz und Aktualität auf. „Unsicherheit und Angst sind in unserer Zeit allgegenwärtig“, so der Dramaturg Antonio Cuenca Ruiz, „ganze Vermögen werden im Handumdrehen angehäuft oder verloren. Mehr als je zuvor sind das Casino und die Spannung, die es durchdringt, Metaphern unserer Welt, ihrer Raserei und ihrer Abgründe.“
Peter Sellars, der für seine eindringlichen Interpretationen verkannter und vergessener Meisterwerke bekannt ist, führt Regie. Der US-amerikanische Theaterregisseur zählt zu den innovativsten zeitgenössischen Persönlichkeiten der Bühnenkunst, wurde in den vergangenen Jahren mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet und leitete bedeutende Kunstfestivals. Bei den Salzburger Festspielen debütierte er 1992 mit Messiaens Saint François d’Assise, seither war er regelmäßig zu Gast, etwa mit seiner Inszenierung von Mozarts Idomeneo 2019 oder bei der Ouverture Spirituelle im Vorjahr. Sellars ist Professor im Department of World Arts and Cultures an der University of California in Los Angeles.

Erwähnenswert ist auch der junge russische Dirigent Timur Zangiev (geb. 1994), der heuer sein Debüt am Pult der Wiener Philharmoniker und bei den Salzburger Festspielen geben wird. In den letzten Jahren hat sich Zangiev zu einem der gefragtesten Dirigenten seiner Generation entwickelt und mit vielen internationalen Orchestern zusammengearbeitet. In der Spielzeit 2022/23 gab er etwa sein Debüt an der Wiener Staatsoper, an der Bayerischen Staatsoper oder beim Rotterdams Philharmonisch Orkest.

Die Besetzungsliste von Der Spieler glänzt mit hochkarätigen Namen der Opernbühne: Peixin Chen singt den General, Asmik Grigorian seine Stieftochter Polina, Sean Panikkar spielt den Hauslehrer und Violeta Urmana wirkt als Erbtante Babulenka mit. Die litauische Sopranistin Asmik Grigorian muss man den meisten nicht mehr vorstellen, seit sie 2019 als „Sängerin des Jahres“ ausgezeichnet wurde und für ihr Rollendebüt als Salome bei den Salzburger Festspielen mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis in der Kategorie „Beste weibliche Hauptrolle“ ausgezeichnet wurde. Seither brillierte sie in Salzburg 2020 als Chrysothemis (Elektra) und in Puccinis Il trittico 2022.

Sergej Prokofjew (1891–1953)
DER SPIELER

Oper in vier Akten op. 24
(1915–1917 / 1927–28, uraufgeführt 1929)

Libretto von Sergej Prokofjew nach dem Roman von Fjodor Dostojewski

Neuinszenierung

Mo. 12. August – Mi. 28. August
Sechs Vorstellungen
Felsenreitschule

Werteumkehr durch Isolation

Der Idiot, ebenfalls einer der bekanntesten Romane von Fjodor Dostojewski, wurde 1867 in Genf begonnen und 1868 in Mailand beendet. Der Protagonist Fürst Myschkin verlässt in dieser Geschichte das Schweizer Sanatorium, in dem er sich seit etwa fünf Jahren zur Behandlung seiner Epilepsie aufhält, um in St. Petersburg nach dem Tod eines Verwandten eine Erbschaftsangelegenheit zu klären. Durch die jahrelange Isolation in der Schweizer Bergwelt hat sich bei Fürst Myschkin ein kindlich-naives Verhalten durchgesetzt, weshalb er in der St. Petersburger Gesellschaft als weltfremder, naiver Sonderling, als „Idiot“ angesehen wird und dort schließlich wegen seiner hohen ethischen Ansprüche an einer von Geld, Gier und Macht dominierten Gesellschaft scheitert.

Mitleid entwaffnet

Der Dramaturg Christian Longchamp schreibt im Programmheft der Salzburger Festspiele: „Der Idiot besitzt eine destabilisierende Kraft, die die Gesellschaft in ihrer Brutalität und Vulgarität, in ihrer Kompromissbereitschaft und mit ihren dunklen Trieben nicht dulden kann. Der Idiot stellt die Umkehrung der allgemeinen Werte dar. Ein Wert hingegen beherrscht ihn vor allen anderen: Mitleid. Und wer uns gegenüber Mitleid zeigt, vor dem schwindet jeder Widerstand. Mitleid bringt die nackte Seele zum Vorschein. Es entwaffnet.“

Auch wir leben in einer Welt von Krieg, Gewalt und Vernichtung. Menschlichkeit wird mit Füßen getreten. Mit diesen Worten zieht Christian Longchamp eine Parallele zwischen der Oper und unserer realen Welt: „Die Stimme des Mitleids wird vom Kriegslärm erstickt. Wenn nur eine Person (ob real oder, wie hier, fiktiv) angesichts der menschlichen Abgründe durch ihre Worte oder Haltung, durch ihre Wahrhaftigkeit, die jegliche Lüge und Berechnung ausschließt, Herzensgüte und Mitleid gebietet, fürchten wir uns vor der Unerhörtheit einer grenzenlosen Liebe.“

Aus Dostojewskis Roman Der Idiot schuf der polnisch-sowjetische Komponist Mieczysław Weinberg Mitte der 1980er-Jahre seine siebte und letzte Oper. Weinbergs Idiot wurde lange verkannt, obwohl seine Bedeutung innerhalb der Operngeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mittlerweile unbestritten ist. Die Uraufführung der Originalpartitur erlebte der 1996 verstorbene Komponist allerdings nicht mehr, sie fand erst 2013 in Mannheim statt.

Intendant Markus Hinterhäuser bringt im Sommer bei den Festspielen erstmals eine Oper Weinbergs zur Aufführung in Salzburg und engagierte hierfür Krzysztof Warlikowski mit der Inszenierung. 2018 gab der polnische Schauspiel- und Opernregisseur mit Henzes The Bassarids sein Debüt bei den Salzburger Festspielen, wohin er 2020 und 2021 für Elektra zurückkehrte. 2021 wurde er in der Theatersparte der Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen für sein Lebenswerk geehrt.

Lebensleidenschaft Weinberg

Die musikalische Leitung übernimmt Mirga Gražinyté-Tyla, die sich seit Jahren für Weinberg begeistert und am Pult der Wiener Philharmoniker ihr Operndebüt bei den Festspielen gibt. International machte Mirga Gražinytė-Tyla bereits 2012 auf sich aufmerksam, als sie bei den Salzburger Festspielen mit dem begehrten Nestlé and Salzburg Festival Young Conductors Award ausgezeichnet wurde. Dem Salzburger Publikum ist ihr Name auch daher bekannt, da sie von 2015 bis 2017 Musikdirektorin am Salzburger Landestheater war.

Für die junge litauische Dirigentin ist Weinberg zu einer echten Lebensleidenschaft geworden. „Der Idiot ist ein riesiges Werk, bei dem es dem Publikum wahrscheinlich ähnlich ergeht wie bei der Lektüre von Dostojewskis großen Romanen: Während der ersten fünfzig oder hundert Seiten versucht man, sich in der Fülle von Namen, Orten und Ereignissen zurechtzufinden; die Erzählstränge werden aber immer enger miteinander verknüpft, und nach dieser hundertsten Seite entwickelt die Geschichte einen derartigen Sog, dass man überhaupt nicht mehr aufhören kann zu lesen“, erzählt Gražinyté-Tyla von ihrer Arbeit und verknüpft Dostojewskis Roman mit der Arbeit Weinbergs: „Viele der Weisheiten, die uns Myschkin das ganze Stück hindurch beschert, müssen mit Weinbergs Charakter stark im Einklang gestanden haben – etwa der Gedanke, dass die Schönheit nicht tot ist, sondern vielleicht nur nicht in der Gunst der Gegenwart steht.“

Mit Bogdan Volkov als Fürst Myschkin und Ausrine Stundyte als „gefallene“ Frau Nastassja, die der Fürst in seiner Leidenschaft retten möchte, brillieren zwei namhafte Opernsänger in den Hauptrollen. Bogdan Volkov zählt zu den gefragtesten lyrischen Tenören seiner Generation und gastiert regelmäßig an den international führenden Opernhäusern. Bei den Salzburger Festspielen sang er 2020/21 den Ferrando in Così fan tutte.

Die litauische Sopranistin Ausrine Stundyte gab 2020 ihr Salzburger Festspieldebüt als Elektra unter Franz Welser-Möst, 2022 kehrte sie als Judith in Herzog Blaubarts Burg nach Salzburg zurück.

Mieczyslaw Weinberg (1919–1996)
DER IDIOT
Oper in vier Akten op. 144
(1986/87, uraufgeführt 2013)

Libretto von Alexander Medwedew nach dem Roman von Fjodor Dostojewski

Neuinszenierung

Fr. 2. August – Fr. 23. August
Fünf Vorstellungen
Felsenreitschule