Die Medizin der Alpen
Das Heilwissen aus dem Alpenraum ist reich an Tradition, Geschichte und Ritualen. Die traditionelle Alpenmedizin, eine auf Althergebrachtem beruhende Laienheilkunde, gewinnt heute wieder vermehrt an Aktualität, indem sie fast verlorenes Wissen in die Gegenwart überträgt und modern interpretiert.
Es ist ein wahrer Segen, dass sich in den entlegensten Tälern des Alpenraumes altes Heil- und Kräuterwissen bis in die Gegenwart bewahren konnte. In diesen ländlich geprägten, unwegsamen Gegenden herrschten in vergangenen Jahrhunderten beschwerliche Lebensumstände, die Menschen waren durch die Abgeschiedenheit und spärliche Mobilität komplett auf sich selbst gestellt und entwickelten aus der Not ein eigenständiges medizinisches Heilverständnis.
Der Wiener Pharmazeut Arnold Achmüller, geboren 1982 in Südtirol, beschäftigt sich als erfolgreicher Buchautor seit vielen Jahren mit der traditionellen europäischen Medizin des Alpenraums. „Ich kam erstmals über meine Großmütter, die beide ein reiches volksmedizinisches Wissen hatten, mit der alpinen Volksmedizin in Kontakt“, erklärt Achmüller seinen frühen Zugang zur Alpenmedizin. „Während meines Pharmazie-Studiums vertiefte ich mein Wissen durch das Studieren alter Quellen wie bäuerlicher Rezeptbüchlein. Mich fasziniert nicht nur die Vielzahl an eingesetzten Heilpflanzen, sondern auch das umfangreiche Repertoire an Heilmethoden und Hausmitteln.“
Auf rauem Nährboden
Anders als die Traditionelle Europäische Heilkunde, begrenzt sich die alpine Volksmedizin auf das alpenländische Gebiet der heutigen Schweiz, Österreich, Bayern und Südtirol, wo die Gesellschaft tief mit der Natur verbunden und widrigen Umweltbedingungen ausgesetzt war. „Die Alpenmedizin ist ein Teil der traditionellen europäischen Medizin. Durch die oftmals abgeschiedenen Täler hat sich im Alpenraum aber Heilwissen erhalten, das in urbaneren und flacheren Gebieten schon längst vergessen wurde. Außerdem verwendet die alpine Heilkunde teilweise auch viel speziellere Heilmittel wie Edelweiß, Lärchenharz oder die kleine Bibernelle“, erklärt Arnold Achmüller.
Mit Beginn der Neuzeit erscheint mit Paracelsus ein Heiler auf der Bildfläche, der die Volksmedizin im Alpenraum wie kaum ein anderer prägte. Die Trennung zwischen der universitären und der volkstümlichen Medizin nahm fortan ihren Lauf, die Volksheilkunde wurde dabei häufig belächelt und als Aberglaube oder Kurpfuscherei abgetan. Dazu trug sicherlich bei, dass sich die Volksmedizin neben dem Einsatz von pflanzlichen, tierischen und mineralischen Produkten auch zahlreicher „magischer“ Mittel (wie Sprüche, Rituale, Amulette) bediente. Noch vor 200 Jahren galten beim Volk etwa Bakterien und Viren als Dämonen, die von einem Infizierten zum nächsten übersprangen und so Infektionskrankheiten übertrugen. Lange Zeit war auch die Meinung im Volk verbreitet, dass Krankheiten eine Strafe Gottes für unsere Sünden wären.
Bauerndoktoren
Der Umstand, dass bis ins 19. Jh. die Pflege von Kranken und Alten, aber auch die Geburt und das Sterben im eigenen Heim stattfanden, und es im Alpenraum weitläufig an ausgebildeten Ärzten, Hebammen und Badern fehlte, war für die Entwicklung von Laienmedizinern, sogenannten Bauerndoktoren, ausschlaggebend. Das Tätigkeitsfeld der einzelnen Bauernärzte war dabei sehr unterschiedlich, einige zogen Zähne, die Blutstiller versiegten Blutfluss, wiederum andere versorgten nur äußere Leiden wie Wunden oder Brüche – diese speziellen Bauerndoktoren wurden im Salzburger Flachgau salopp „Boandlrichter“ genannt.
Die Säulen der Gesunderhaltung
Beachtet man die Säulen, auf denen die Volksheilkunde fußt, gehörte im Grundverständnis der damaligen bäuerlichen Bevölkerung zur Gesunderhaltung noch so einiges mehr als das reine Verabreichen von Kräutern. So schildert Achmüller in seinen Büchern, welche unterstützenden Maßnahmen zur Heilung beitragen können und weshalb soziale Kontakte, Rituale, ein geregelter Tagesablauf, diverse Reizverfahren und Bewegung der Gesundheit zuträglich sind.
Dem Baden in fließendem Wasser sprach schon Hippokrates die Fähigkeit zu, Krankheiten aus dem Körper zu schwemmen. So entstand auch an alpenländischen Orten mit mineralischen Heilwässern eine eigene Bäderkultur mit heilsamen Quellen gegen Rheuma, Unfruchtbarkeit, Tuberkulose, u. a. Erkrankungen von Haut oder Organen. Sebastian Kneipp (1821–1897) war der Erste, der ein eigenes Heilkonzept mit Wasser entwickelte, das mehr als 100 Wasseranwendungen umfasst. Der studierte Theologe aus dem bayerischen Allgäu entwickelte vor dem Hintergrund seiner eigenen Tuberkulose-Erkrankung die bis heute angewandte, immunstärkende Hydrotherapie, zu der kalte Güsse und Bäder, Wechselduschen, Wassertreten, Packungen, Wickel und Dämpfe zählen. Diese thermischen Reizverfahren arbeiten über Kälte oder Wärme, die vom Wasser übertragen zu einer Stärkung im Körper führen. Kneipp kann neben Paracelsus wohl als einflussreichste Person in der alpinen Volksmedizin angesehen werden.
Reizverfahren für die Gesundheit
Die Kneippsche Wasserkur zählt ebenso wie das bewusste Hervorrufen von Wunden (Kauterisation) und diverse Ausleitungsverfahren (Aderlass, Abführ- und Brechmittel, Schwitzkuren, Schröpfen oder Einläufe) zu den Reizverfahren, mit denen aktiv die selbstregulativen Systeme des Körpers herausgefordert und aktiviert werden. So empfahlen alte medizinische Lehrbücher etwa das Aufschlagen von frischen Brennnesseln bei rheumatischen Erkrankungen als gängige Therapieform. Der menschliche Organismus stellt sich selbstregulierend diesem Reiz und entwickelt gezielt Schutz- oder Abwehrmechanismen, die in weiterer Folge das Krankheitsbild unterbrechen können. Jedoch entscheidet die Intensität der Anwendung über Nutzen oder Schaden, denn nur ein leichter bis mittelstarker Reiz kann sich positiv auf den Organismus auswirken, während allzu starke Reize den Körper sogar schädigen können.
Von Generation zu Generation
Die Heilpflanzen waren und sind jedoch die wichtigsten Heilmittel der Alpenmedizin, das Wissen darüber wurde von einer Generation auf die nächste weitergegeben. Wie Arnold Achmüller in seinem Buch „Wickel, Salben und Tinkturen“ anführt, sind im Alpenraum nachweislich mehr als 400 verschiedene Heilpflanzenarten bekannt. Johanniskraut, Spitzwegerich, Ringelblume, Liebstöckel, Kamille, Wacholder – allesamt bedeutende Heilpflanzen, die in der Volksheilkunde in unterschiedlichen Zubereitungsformen Anwendung fanden: als Tee, Mazerat (Kaltwasserauszug), alkoholischer Auszug, Umschlag, Badezusatz, Wickel, Kräuterkissen, Salbe oder Pflaster.
Denn schon früher bedienten sich die Menschen präventiver Maßnahmen wie der Einnahme von Heilkräutern, um gesund durch die kalte Jahreszeit zu kommen. „Am häufigsten waren dies Zubereitungen aus Holunderbeeren und Hagebutte zur Prophylaxe; Linden- und Holunderblüten bei erkältungsbedingtem Schnupfen und Fieber; Quendel, Isländisch Moos und Spitzwegerich bei Husten; Salbei, Blutwurz und Bibernelle bei Halsschmerzen sowie die tonisierenden Pflanzen Tausendgüldenkraut und Wermut, um nach einer überstandenen Infektion wieder schneller auf die Beine zu kommen“, beschreibt Achmüller die altbewährten alpinen Heilkräuter im Bereich der Atemwegserkrankungen.
Zu den populärsten früher angewandten Heilmitteln zählen mitunter Enzian, Arnika und Edelweiß. Die Bitterstoffe in der Wurzel des Enzians („Bitterwurz“) – häufig als Enzianschnaps zu Genusszwecken getrunken – regen die Verdauungssäfte an, wodurch Völlegefühl und Blähungen gebessert werden. Das Edelweiß gilt als „Bauchwehblüml“ und war früher (in Milch gekocht) wegen seiner antibakteriellen, stopfenden Wirkung ein beliebtes Heilmittel gegen Durchfall. Bis heute gerne angewendet wird der entzündungshemmende und schmerzstillende Arnikaschnaps, der als Einreibung bei schmerzhaften Gelenk- oder Muskelbeschwerden, Venenentzündung und Insektenstichen (äußerlich auf intakter Haut!) aufgetragen wird und in keiner Hausapotheke fehlen sollte.
Text: Susanne Rosenberger
Fotos: Julia Wesely, adobe.stock.com