„Als Arzt fühle ich mich schon lange nicht mehr“
Text: Doris Thallinger
Fotos: www.kaindl-hoenig.com
Leichen gehören für ihn zur Tagesordnung. Und dennoch beschäftigt sich Fabio Monticelli, Leiter der Gerichtsmedizin Salzburg, außerhalb der Gerichtsmedizin gar nicht gern mit dem Tod. Im großen Interview gewährt der gebürtige Italiener einen Blick in seine aktuelle Forschung, den Alltag eines Gerichtsmediziners und seine Einstellung zu Leben und Tod.
Wie kann man sich den Alltag eines Gerichtsmediziners vorstellen?
Der Alltag eines Gerichtsmediziners ist eigentlich recht abwechslungsreich. Natürlich ist unsere Kernaufgabe die Klärung von unnatürlichen und zunächst ungeklärten Todesfällen. Damit hängen eine Reihe von Aufgaben zusammen, wie Zusatzuntersuchungen, also toxikologische und molekularbiologische Untersuchungen. Dafür haben wir die entsprechenden Experten, also Molekularbiologen und Toxikologen. Eine weitere Aufgabe ist die Untersuchung von lebenden Personen, das ist in der Öffentlichkeit gar nicht so bekannt. Wir untersuchen z.B. Personen, die Opfer von Gewalt geworden sind, um die Verletzungsursache und den Verletzungsgrad festzustellen. Es geht auch um die Beurteilung von Schmerzensgeld, wenn jemand eine Verletzung erlitten hat: Welche Schmerzen waren damit verbunden? Und wir führen Haftfähigkeits- und Verhandlungsfähigkeits-Gutachten durch. Das sind so die Kernaufgaben. Außerdem sind wir ein universitäres Institut der Paris Lodron Universität. D.h. wir sind in der Forschung und der Lehre tätig. Und wir haben Auftritte bei Gericht, wenn wir unsere Gutachten vor Gericht erstatten und Fragen dazu beantworten. Gerichtsmediziner ist also kein monotoner Beruf, bei dem man herumsitzt und wartet, bis eine Leiche kommt, sondern es ist eigentlich ein ganzes Paket von Aufgaben.
Wie viele Obduktionen werden in Salzburg durchgeführt?
Wir obduzieren auch für Oberösterreich und mittlerweile auch für einige Bezirke in Niederösterreich. Das sind insgesamt ungefähr 400 bis 500 Obduktionen im Jahr. Es wird nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Todesfälle obduziert. Und das, obwohl man in der Regel einem toten Menschen nicht ansehen kann, woran er gestorben ist, es sei denn, der Tod ist durch grobe äußere Gewalt eingetreten, wie etwa bei einem Schussopfer. Bei der Mehrzahl der Fälle ist der Leichenbeschauer eher auf die Kenntnis der medizinischen Vorgeschichte oder etwaiger Fremdangaben angewiesen.
Letztendlich kann man die Todesursache nur durch eine Obduktion feststellen. Unsere Erfahrung ist, dass das, was auf dem Totenschein steht, nur in einem bescheidenen Prozentsatz wirklich zutrifft.
Also kommen Verbrechen gar nicht zutage, weil eine falsche Todesursache angegeben ist?
Alle Gerichtsmediziner gehen von einer hohen Dunkelziffer an Tötungsdelikten aus, die unentdeckt bleiben, weil der Leichenbeschauer standardmäßig z.B. einen Herzinfarkt diagnostiziert hat und darum nicht obduziert wurde. Die Gerichtsmediziner sind sich einig, dass ein Großteil von Tötungsdelikten unentdeckt bleibt.
Wenn die Polizei oder Staatsanwaltschaft keinen Hinweis auf Fremdverschulden hat, wird in der Regel auch nicht obduziert – und der Fall kommt fehlerhaft in die Statistik.
Es ist nicht überraschend, dass die häufigste Todesursache laut Statistik durch Herz-/Kreislauferkrankungen bedingt sei. In die Statistiken gehen die Informationen sämtlicher Totenscheine ein, unabhängig davon, ob obduziert wurde oder nicht. D.h. die ganze Statistik fußt auf Angaben, die sehr fragwürdig sind. Und nach dieser fehlerhaften Statistik richtet sich auch die ganze Prävention im Gesundheitswesen.
In Ihrer Forschung sind Sie „dem Todeszeitpunkt auf der Spur“. Können Sie kurz erklären, worin Ihre Forschung besteht und auf welchem Stand der Ergebnisse Sie derzeit sind?
Diese Forschung betreiben wir seit ungefähr sieben Jahren. Wir wollten versuchen, eine Methode zu entwickeln, die wir heranziehen können, um den Todeszeitpunkt festzustellen. Hintergrund ist, dass wir für die Eingrenzung des Todeszeitpunktes zwar eine Palette an etablierten Verfahren zur Verfügung haben, die aber sehr ungenau sind. Es ist nicht so wie im Krimi, dass wir den Todeszeitpunkt auf eine halbe Stunde genau bestimmen können. Wir haben erhebliche Probleme, mit diesen etablierten Methoden befriedigend den Todeszeitpnkt einzugrenzen.
Probleme, mit denen alle Gerichtsmediziner zu tun haben. Der Todeszeitpunkt spielt eine große Rolle, erstens, um die zum Tode führenden Prozesse besser interpretieren zu können und zweitens, um Alibis überprüfen zu können. In Einzelfällen können auch erbrechtliche Konsequenzen daraus erwachsen. Die damit zusammenhängenden Fragen können wir nur dann beantworten, wenn wir den Todeszeitpunkt kennen. Zusätzlich gibt es das Problem, dass uns nur im frühen und im späten postmortalen Intervall etablierte Methoden zur Todeszeiteingrenzung zur Verfügung stehen. Demgegenüber können wir im Zeitraum dazwischen, im sogenannten intermediären postmortalen Intervall, nicht auf ein ausreichendes Methodenspektrum zurückgreifen. Es war unser Ziel, diese methodische Lücke zu schließen.
Wie funktioniert diese Methode, an der Sie forschen?
Zusammen mit den Wissenschaftlern von der Naturwissenschaftlichen Fakultät – ausgewiesenen Muskelexperten – haben wir angefangen zu untersuchen, wie sich der Muskel postmortal verändert und haben versucht, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die Rückschlüsse auf den Todeszeitpunkt geben. Das Projekt hat sich sehr positiv entwickelt. Wir sind darauf gekommen, dass sich die Untersuchung der Muskelproteine für unsere Zwecke sehr gut eignen könnte. Im Muskel gibt es hunderte von Proteinen, die postmortal teils zu sehr unterschiedlichen Zeitpunkten degradieren.
Darin konnten wir zeit-liche Gesetzmäßigkeiten erkennen und ein Zeitraster erstellen. Ein sehr komplexes Thema, das wir uns in den nächsten Jahren anschauen werden.
Wie sind Sie darauf gekommen, Gerichtsmediziner zu werden?
Ich habe nach dem Studium gedacht, ich bin jetzt Arzt – also muss ich zumindest in der Lage sein, Erste Hilfe zu leisten. Ich habe mich für die Unfallchirurgie entschieden und zunächst eine unfallchirurgische Stelle in Berlin angetreten. In anderthalb Jahren habe ich viel gesehen, es war super spannend. Aber ich habe auch gesehen, dass ich die Tätigkeit in einer Klinik nicht mein Leben lang machen möchte.
Und so habe ich mich aktiv für Fächer beworben, die nicht unbedingt eine Ausbildung in der Klinik erfordern: Radiologie und Gerichtsmedizin. Mir gefiel die Idee, in diesen Grenzbereich zu gehen – und so habe ich mich schließlich für die Gerichtsmedizin entschieden.
Und mir gefällt es immer noch, in diesem Grenzbereich tätig zu sein, in dem man mit vielen spannenden Fällen zu tun hat. Das ist sehr faszinierend.
Sehen Sie sich mehr als Ermittler oder mehr als Arzt, bzw. Mediziner?
Als Arzt fühle ich mich schon lange nicht mehr, da für mich zum Arztsein auch die Behandlung von Menschen dazugehört Ich sehe mich eher als Sachverständiger oder Ermittler in einem sehr engen Bereich, der die Leiche und den Tatort betrifft.
Bekommt man eine andere Sicht aufs Leben, wenn man sich dauernd mit dem Tod beschäftigen muss?
Es verändert die Sichtweise und prägt, wenn man sieht, wie abrupt das Leben zu Ende sein kann, dass es von heute auf morgen anders aussehen kann. Die Gerichtsmedizin trägt dazu bei, dass man ein bisschen bewusster lebt.
Stumpft man in gewisser Weise ab, wenn man tagtäglich mit dem Tod konfrontiert ist?
Nein, ich stumpfe nicht ab und ich will auch nicht abstumpfen. Es gibt bestimmt einige, die abstumpfen und zynisch werden, das mag ich nicht. So wie es im Fernsehen immer dargestellt wird: der Gerichtsmediziner, der komische Kauz, der im Keller sitzt. Alle denken, der Gerichtsmediziner ist schon per se gestört, weil er diesen Beruf hat. Das gefällt mir nicht. Ich bin im Gegenteil der Meinung, das Image des Gerichtsmediziners in der Öffentlichkeit gehört definitiv aufpoliert.
Haben Sie Angst vor dem Tod?
Auf den Tod habe ich ehrlich gesagt keine große Lust. Natürlich gehört der Tod zum Leben dazu; leider. Mit dieser Idee habe ich mich noch nicht anfreunden können. Es ist ja erstaunlich – seitdem Menschen auf der Welt sind, sterben sie. Eigentlich sollte der Tod ein ganz normaler Bestandteil unseres Daseins sein. Aber ich glaube die Gesellschaft oder die Menschen haben sich immer noch nicht richtig daran gewöhnt. Für mich ist die Vorstellung des Todes etwas, was ich gerne noch lange verdrängen möchte. Dafür liebe ich das Leben einfach zu sehr. Ich weiß natürlich, dass das eine kurzsichtige Sicht der Dinge darstellt.
Sie haben auch zwei Kinder. Was möchten Sie Ihren Kindern unbedingt auf deren Weg mitgeben?
Ich habe eine ganze Reihe von Idealvorstellungen, im Grunde das, was ich versuche, an mir selbst zu verbessern, das würde ich auch gerne meinen Kindern weitergeben. Authentizität, Weltoffenheit, Gelassenheit, Merkmale, die ich für sehr wichtig erachte. Letztlich geht es auch darum, ein guter Mensch zu sein.
Ansonsten will ich, wenn sie ein bisschen älter sind, viel mit ihnen reisen. Ich glaube, es ist unheimlich wichtig, dass sie über den Tellerrand hinausschauen, andere Länder, aber vor allem andere Menschen, andere Kulturen, andere Sichtweisen kennenlernen. Es ist erschreckend, wenn man sich die Situation in Europa ansieht, die von zunehmender Fremdenfeindlichkeit geprägt ist. Ich will meinen Kindern die Rahmenbedingungen bieten, gar nicht erst in die Versuchung zu kommen, engstirnige Ideen zu entwickeln.
Wachsen Ihre Kinder zweisprachig auf?
Ja, ich spreche mit ihnen Italienisch, aber nachdem ich der einzige im gesamten Umfeld bin und ich relativ wenig Zeit mit ihnen verbringe, ist das Italienisch deutlich unterrepräsentiert. Sie verstehen mich, wenn ich Italienisch mit ihnen spreche, aber sie antworten mir (noch) auf Deutsch.
Wie verbringen Sie Ihre Freizeit? Wie schaffen Sie den nötigen Ausgleich?
Früher bin ich sehr, sehr gern gereist, mittlerweile mit den Kindern ist es weniger geworden, also zumindest vom Radius her eingeschränkt. Ich mache viel Sport: Basketball, Tennis, Skifahren. Und ich habe wieder angefangen, Gitarre zu spielen. Als Jugendlicher habe ich zwei Jahre lang Gitarrenstunden genommen – das Üben hat mich aber ziemlich genervt.
Als ich die Kinder bekommen habe, wollte ich ihnen zeigen, dass man auch selber Musik machen kann, nicht nur Musik hören. Ich finde es unheimlich schön, wenn in der eigenen Wohnung jemand Musik macht. Da das sonst niemand gemacht hat, habe ich mich zur Verfügung gestellt. Heute ist es so, dass ich total Lust hätte zu üben, aber leider zu wenig Zeit dafür habe!
Nach nun anderthalb Jahren Leiter der Gerichtsmedizin Salzburg – wie lautet Ihr Resümee bislang? Welche sind Ihre weiteren Ziele, Ihre Visionen?
Ich würde sagen, ich hatte Anlaufschwierigkeiten, wie es halt ist, wenn man eine neue Position inne hat. Aber dann hat sich alles doch sehr positiv entwickelt, dass ich jetzt sage, es läuft richtig gut, ich bin richtig glücklich, wie sich das entwickelt hat. Ich hatte das Glück, von meiner Vorgängerin ein gut aufgestelltes, funktionierendes Institut zu übernehmen. Da muss man erstmal den Status Quo halten. Letztlich muss man sich aber stetig weiterentwickeln, schon allein aufgrund der sich ständig ändernden äußeren Gegebenheiten und Anforderungen. Stagnation hat mich auch nie fasziniert. Deswegen bin ich froh, dass wir das Institut in Teamwork fortwährend weiterentwickeln. Und das ist auch die Vision im beruflichen Umfeld: weitermachen, weiterentwickeln. Vielleicht auch, dass wir mit unserer Protein-Methode ein Tool entwickeln können, das routinemäßig in der Gerichtsmedizin eingesetzt werden kann. Das wäre eine Vision in der Forschung.
Seit 1. Jänner 2017 ist Fabio Carlo Monticelli Leiter der Gerichtsmedizin Salzburg an der Paris Lodron Universität. Geboren in Mailand, aufgewachsen in Bologna und Norddeutschland, studierte er Medizin in Berlin und machte in München die Ausbildung zum Gerichtsmediziner. Seit 2003 lebt Monticelli in Salzburg. Er ist verheiratet und Vater zweier Kinder (5 & 7 Jahre).