Mythen aus Wind und Feuer

Text: Natalie Zettl

Fotos: Christoph Anrather, Sophie Kass

Trend-Reiseziel und sagenumwobene Insel in einem: Wer unberührte Natur, raues Land und herzliche Menschen mag, ist in Island goldrichtig.

Spätestens seit Islands fulminantem Einzug ins Viertelfinale der Fußball-WM 2016 sind Reisende weltweit neugierig auf die Kultur der nördlichen Vulkaninsel. Und das zu Recht: Island ist beeindruckend vielfältig – und in jeder Hinsicht äußerst sympathisch.

Heiße Quellen und Meer
Die Reise beginnt in Islands an der westlichen Küste gelegenen Hauptstadt Reykjavík – der Name bedeutet übersetzt so viel wie „Rauchbucht“ und weist auf die weithin sichtbaren Dämpfe der heißen Quellen in der Umgebung hin, die einer der ersten Siedler mit Rauch verwechselt haben soll. Mit über 123.000 Einwohnern ist Reykjavík die größte Stadt Islands, verfügt jedoch über eine kleine und sehr gemütliche Altstadt. Beeindruckend ist die Hallgrims-kirche (isländisch: Hallgrímskirkja), die architektonisch sowohl an die zerklüfteten Berge und Gletscher wie auch an die großen, kargen Weiten des Landes erinnert. Auch das moderne Konzerthaus Harpa und die Lichtshow des Imagine Peace Tower sind definitiv einen Besuch wert. Weiter geht es durch Reykjavík mit einem Ausflug auf die Leuchtturminsel Grótta, auf die man bei Ebbe gemütlich zu Fuß gelangen kann. Der weithin sichtbare Leuchtturm vor der Kulisse der schwarzen Steine und des Dünengrases bietet einen bezaubernden Anblick und Gelegenheit für ein paar Fotos. Ganz in der Nähe liegt die Heißwasserquelle Kvika mit ihrem kleinen Becken – sie dient vorbeikommenden Wanderern für ein angenehmes Fußbad mit malerischer Aussicht. Apropos baden: Allein in Reykjavík und Umgebung befinden sich 17 Naturswimmingpools, die von geothermalen Quellen gespeist werden. Kein Wunder also, dass das Baden in der isländischen Kultur einen festen Platz einnimmt!

Aurora tanzt
Auch am Abend erfreut sich Grótta großer Beliebtheit bei Polarlichter-Beobachtern. Die beeindruckende Himmelserscheinung der Aurora Borealis kann mit ein wenig Glück und der richtigen Solaraktivität von Anfang September bis Mitte April beobachtet werden. Definitiv ein Highlight meiner Reise: Fast eine volle Stunde lang tanzen die grünen Polarlichter weithin sichtbar über den Himmel. Die schimmernden Lichtformen schwingen sich elegant über das Firmament und formen ständig neue kunstvolle Muster – ein Anblick, der sich unlöschbar im Gedächtnis einprägt. Unerlässlich zum Polarlichter-Beobachten: Warme Kleidung (in der Tat am besten die wärmste, die man finden kann), ein heißes Getränk, Isomatte und Schlafsack zum bequemen Sitzen auf dem Boden – oder Badekleidung und eines der natürlichen Thermalbecken mit warmem Wasser, in dem man sich entspannen kann, während man in den Himmel schaut.

Þingvellir Nationalpark
Weiter geht es mit einem Roadtrip im Mietwagen, um die Insel außerhalb der Hauptstadt kennenzulernen. Was auffällt: In Island gibt es kaum Bäume. Der Grund dafür liegt in der frühen Geschichte: Als die norwegischen Wikinger im 9. Jahrhundert die Insel bevölkerten, war Island noch reich an Birken- und Weidenwäldern. Durch die Besiedelung wurde jedoch vieles davon gerodet, und die eingeführten Schafe fraßen viele neu wachsende Pflanzen einfach auf. Klimaveränderungen und die sehr aktive Vulkanlandschaft führten zum heutigen „baumlosen“ Erscheinungsbild der Insel. In Reykjavík bemüht sich die Stadt, die Vegetation aufzubauen – zahlreiche junge Bäumchen zieren Parks und Wiesen. Eine beliebte Scherzfrage in Island lautet: „Was muss man tun, wenn man sich in einem isländischen Wald verirrt?“ Die Antwort: „Aufstehen.“ Erstes Ziel meines Road-trips ist der Þingvellir Nationalpark (Þ wird wie das englische Th ausgesprochen), 52 Kilometer nordöstlich von Reykjavík. Auf der weitläufigen Ebene am See Þingvallavatn wurde im Jahr 930 nach Christus Islands historisches Parlament als eines der ersten der Welt gegründet.
Vom Lögberg („Gesetzesberg“), umgeben vom Fluss Öxará, wurde in alter Zeit Recht gesprochen: Männer aus allen Regionen der Insel trafen hier zusammen, um Gesetze zu erlassen und zu richten. Für die meisten Isländer, die sich der Geschichte ihrer Heimat (wie übrigens auch den Mythen und Fabeln) traditionell sehr verbunden fühlen, ist Þingvellir ein heiliger Ort.

Heiß und kalt
Weiter geht es zum Geysir Strokkur, der sich im Heißwassertal Haukadalur befindet und alle zehn Minuten ausbricht – manchmal sogar mehrmals kurz hinter-einander. Aufgrund des extremen Windes an meinem Ausflugstag bekomme ich jedoch keinen großen Ausbruch zu sehen: Nur etwa einen Meter schnellt das heiße Wasser in die Höhe. Auch am Gullfoss Wasserfall durchkreuzt der eisige Wind meine Pläne: Er weht so stark, dass ein Festhalten am Geländer kaum möglich ist. So habe ich nicht lange Gelegenheit, den knapp 230 Meter breiten und 32 Meter hohen Wasserfall gebührend zu bewundern, bevor ich mich wieder ins warme Auto rette. Am 66 Meter hohen Seljalandsfoss-Wasserfall ist mir jedoch das Glück hold. Der Wind hat nachgelassen, und nach ein paar kurzen Schauern lässt sich minutenweise die Sonne blicken – ein für Island typisch wechselhaftes Wetter. Ein kleiner Pfad führt mehr oder weniger trocken unter dem Wasserfall durch und bietet einen Eindruck von der schieren Kraft der Natur.

Kratersee und schwarzer Sand
Es folgt ein Abstecher zum Kerið Kratersee. Die im Sommer in leuchtenden Farben schillernden Wände des Kraters sind von Schnee bedeckt, das Wasser strahlt petrolblau in der Tiefe. Der perfekte Ort, um bei einer kleinen Pause zu sich zu kommen, den Moment auf sich wirken zu lassen und tief durchzuatmen.
Am Ende des Tages – punktgenau zum Sonnenuntergang – komme ich am schwarzen Strand von Ölfus an. Plötzlich erscheinen die warmen Farben der untergehenden Sonne fast sommerlich, obwohl der Wind noch immer sehr kalt ist. Während ich zusehe, wie sich die meterhohen Wellen am dunklen Strand brechen, geht mir fasziniert durch den Kopf: Wandelbarer, mystischer und ursprünglicher als Island – das ist wohl kein anderes Land auf der Welt.