„Wer seine Mitte nicht verliert, der dauert!“
So schrieb der chinesische Weise Laozi vor 2500 Jahren und brachte damit das Ziel der chinesischen Bewegungslehren auf den Punkt. Egal ob Taijiquan, Qigong oder noch exotischere Übungsformen, sie bieten einen ganzheitlichen Weg zu Gesundheit, Achtsamkeit und vor allem zu sich selbst.
Text: Dominic Schafflinger
Fotos: Adobe Stock, Hans Tautermann, WCTAG, Nikos Stavlas, www.theresart.at
Während Yoga inzwischen zum Mainstream geworden ist, sind chinesische Bewegungslehren noch immer eine exotische Randerscheinung. Das mag an der politischen Situation in China liegen oder daran, dass Yoga seit Jahren von den Stars gepusht wird. Trotzdem oder gerade deshalb sind die chinesischen Kampf- und Bewegungskünste nicht minder spannend. Greifen doch auch sie auf eine jahrtausendalte tiefgründige Philosophie zurück und bieten faszinierende Übungsmethoden. Diese sprechen Körper, Geist und Energie gleichermaßen an und lassen uns wieder zu unserer Mitte finden.
Das magische Erbe des alten Chinas
China hütet seit Tausenden von Jahren einen Schatz an Gesundheitspraktiken. Sie entspringen einer tiefen Verbundenheit mit der Natur. Daoistische Weise beobachteten natürliche Gesetzmäßigkeiten und erkannten, dass das Weiche dem Harten auf Dauer überlegen ist und in jedem Extrem bereits der Keim seines Gegensatzes enthalten ist. So entwickelten sich metaphysische Erklärungsmodelle, wie die Theorie von Yin und Yang, der fünf Wandlungsphasen oder dem ständigen Fluss der Lebensenergie Qi. Ärzte schufen daraus die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und über Jahrhunderte entwickelten sich heilende Bewegungen, die den alten Einsiedlern die Geschmeidigkeit eines Kindes zurückgeben und ihr Leben verlängern sollten. Nur so hätten sie genug Zeit, das mystische Dao zu kultivieren, letztendlich einen Drachen zu besteigen und die Unsterblichkeit zu erlangen – so will es zumindest der Mythos.
Yoga und Qigong
Einer anderen Legende zufolge brachte der buddhistische Mönch Bodhidharma im 5. Jahrhundert Yogaübungen in das Shaolinkloster und legte damit den Grundstein für die heute weltberühmten Kampfmönche und das, was wir heute Qigong nennen. Ob nun die Qigong Übungen eine ureigene chinesische Tradition sind, oder aus Indien importiert wurden, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. In der Ausführung ist Qigong jedenfalls deutlich anders als Yoga. Fast alle Übungen werden im Stehen ausgeführt und während klassische Yoga Asanas den Körper in erster Linie dehnen, konzentriert sich Qigong auf die Entspannung, so entstehen weiche und runde Bewegungen, die den Körper durchlässig für die körpereigene Energie, das Qi, machen. Der Bewegungsapparat wird sanft gestretcht, gekräftigt und energetisiert. Andererseits vertieft sich wie beim Yoga die Atmung und die achtsame Ausführung der Übungen steht bei beiden Systemen im Vordergrund. Ebenso gibt es unzählige Meditationspraktiken.
Xi Xi Ho
Eine kleine rot-trockene Stelle über der Achillesferse des Schwarzacher Qigong Lehrers Hans Tautermann ist die letzte Spur einer Krankheit, die einst seinen ganzen Körper bedeckte: „Das ist der einzige Punkt, an dem ich noch Neurodermitis habe, er erinnert mich daran, nicht aufs Üben und ‚Qigong Gehen‘ zu vergessen.“ Xi Xi Ho oder nierenstärkendes Gehen ist im Qigong nach Prof. Cong und Dr. Wenzel eine Grundübung. Diese spezielle Art des Gehens verbindet die Meridiane mit der Atmung und der Aufmerksamkeit. „Früher fragten alle Meister Cong nach den besten Übungen gegen diese oder jene Krankheit. Er antwortete immer mit Xi Xi Ho, denn es stärkt die Nierenenergie und die ist zentral für unsere Gesundheit“, erklärt Hans Tautermann und fährt fort: „Qigong ist zwar kein völliger Ersatz für die Medizin, aber wir können aktiv am Heilungsprozess mitwirken. Sei es bei der Krebstherapie oder nur bei einer Erkältung.“
Taijiquan als Weg zu sich selbst
In vielen chinesischen Kungfu-Stilen geht es inzwischen auch darum, zu sich selbst zu finden. Die Faust gegen seine eigenen schlechten Angewohnheiten zu richten, gehört zu den erklärten Zielen dieser Künste. Taijiquan ist wahrscheinlich die bekannteste solcher ‚inneren‘ Kampfkünste. Die Bewegungen sind ruhig und fließend. Kraftvoll und harmonisch spiegeln sie den Wechsel von Yin und Yang wider. Die positiven Wirkungen auf chronische Erkrankungen des Bewegungsapparates sind längst in unzähligen Studien belegt. Es geht im Training darum, sich selbst zu meistern. Denn wenn der gesamte Körper nicht mehr aus der eigenen Mitte zu bringen ist und der Geist nicht mehr aus der Ruhe kommt, wer sollte einem noch etwas anhaben können. „Man lernt Taijiquan, um nicht kämpfen zu müssen“, erklärt Meister Jan Silberstorff, der sechs Jahre in China beim größten noch lebenden Taijimeister Chen Xiaowang leben und studieren durfte: „Durch das Training verändert sich mein Bezug zu den Dingen, ich werde achtsamer und reflektierter, so komme ich gar nicht mehr in die Situation, mich verteidigen zu müssen, weil ich einfach nicht mehr da bin, wo diese Dinge passieren. Und wenn doch, dann bin ich durch mein Training nicht mehr einzuschätzen. Denn, obwohl sanft in Umgang und Sprache, spürt ein potenzieller Aggressor etwas, das ihn verunsichert: Meine zentrierte Struktur, die schon seine Intention aus dem Gleichgewicht bringen und im Ernstfall große Kraft übertragen kann. Das passiert im Taiji ganz natürlich und gilt für alle Auseinandersetzungen, von der verbalen bis zur körperlichen.“
Gesund in jedem Alter
Die zahlreichen Übungswege, egal ob als reine Bewegungskunst oder als friedliche Kampfkunst geübt, bieten eine Reihe gesundheitlicher Vorteile. „Da ist zum einen der körperliche Aspekt, beim Bagua werden die Bewegungsabfolgen im Kreis gelaufen, das stärkt die Beine und durch das ständige Verwringen des Körpers werden die Faszien angeregt, wie in der Spiraldynamik“, erläutert Jumin Chen. Die wahre Stärke liegt aber im Mentalen. „Gesundheit beginnt im Kopf. Man bekommt durch die chinesischen Übungswege eine positive Einstellung und wird mutig“, so der Meister weiter. Im Yiquan arbeitet man besonders viel mit der Vorstellungskraft. Während der Übungen visualisiert man Sprungfedern zwischen unterschiedlichen Körperteilen, die man zusammendrückt. Das gibt dem Gesunden Kraft, aber für den Kranken kann diese Form der Geistesarbeit ein Gamechanger sein, erzählt Meister Chen: „Im Mai kam ein junger Mann zu mir, der durch einen Unfall querschnittsgelähmt war, nach fünf Monaten konnte er wieder am Stock laufen.” Durch das Training entstehen neue neuronale Verbindungen, so ist Yiquan auch ideal, um aktiv etwas gegen Parkinson, Multiple Sklerose oder Schlaganfall zu tun.
Der Weg beginnt mit dem ersten Schritt
Jumin Chen, der Gründer der Chen Akademie Salzburg erklärt, worauf man achten sollte, um ‚seinen Stil‘ zu finden: „Man sollte viel ausprobieren, gefällt einem ein Stil, braucht es vier Wochen regelmäßiges Training, um danach folgende drei Punkte zu überprüfen: Erstens sollte man eine deutliche Wirkung im Alltag spüren. Gesunde fühlen sich stärker und ausgeglichener und wer Schmerzen hat, nimmt erste Verbesserungen wahr. Zweitens sollte man schon am Mentalen gearbeitet haben. Drittens sollte der Lehrer individuelle Korrekturen vornehmen, das geht nur über Körperkontakt. Wenn der Lehrer ständig betont, dass nur er es richtig mache und alle anderen falsch, dann sollte man sofort davonlaufen.
Wer sich dann ernsthaft auf den Weg macht, wird irgendwann an jenen Punkt kommen, den der Begründer der Prozesspsychologie und C.G. Jung Schüler, Arnold Mindell, beschreibt: „Jene Menschen, die keine innere Arbeit betreiben, nehmen sich selbst tendenziell eher als ein Partikel mitten in einem sie umgebenden Feld wahr und als ein Körper, der ständig äußeren Einflüssen, wie Krankheiten, ausgesetzt ist. Praktizierende jedoch erleben sich selbst als dieses alles umgebende Feld und bewegen sich mühelos in und mit ihm, sie tanzen im Rhythmus des Universums.“
Jumin Chen ist ein international anerkannter Lehrer und Gründer der Chen Akademie Salzburg. Inzwischen lebt er in der Schweiz, gibt aber regelmäßig Seminare in Salzburg. Er unterrichtet Yiquan, Qigong, Yang Stil Taijiquan und Bagua.
Jan Silberstorff ist Stilerbe des Chen Stil Taijiquans in 20. Generation und in der ganzen Welt unterwegs, um zu lehren. Er leitet den größten Taijiverband Europas, die WCTAG, die auch in Salzburg vertreten ist. Nach Jahren kommt er 2024 wieder nach Salzburg, um zu unterrichten.
Hans Tautermann begann 1990 bei Cong Yong-Chun und Gerhard Wenzel mit Qigong. Der Qigong Stil ist inzwischen als Goldegger-Schule bekannt. Tautermann ist Ausbilder für die Lehrkräfte der Österreichischen Qigong Gesellschaft und unterrichtet in St. Johann im Pongau.