Schönheit im Unvollkommenen
Text: Susanne Rosenberger
Fotos: adrenalinapura - stock.adobe.com
Wabi-Sabi ist mehr als ein angesagter Wohntrend, es verkörpert eine jahrhundertealte japanische Philosophie. Die Gabe, im Alltäglichen Schönheit zu erkennen und sich vom Perfektionismus zu verabschieden, ist Voraussetzung für das fernöstliche Ästhetik-Konzept.
In unserer schnelllebigen, reizüberfluteten Zeit wird uns in Magazinen, auf Instagram und in Blogs das perfekte Leben von makellosen Menschen vorgegaukelt. Diese mediale Täuschung löst bei vielen Verunsicherung, Überforderung und Druck aus. Die innere Unzufriedenheit wächst und wir versuchen, unser Stressempfinden durch Geld, Status, Äußerlichkeiten und die grenzenlose Anhäufung von Kram zu kompensieren. Durch die riesige Auswahl an leicht erschwinglichen Konsumgütern kaufen wir eilig und unüberlegt – unsere Kleiderschränke und Regale sind überfüllt mit unnützen Dingen, die wir eigentlich nicht brauchen.
Mehr Glück durch weniger Besitz
Während es in Europa und den USA primär um Makel-losigkeit, Anti-Aging und Perfektionismus geht, empfiehlt das fernöstliche Wabi-Sabi (nicht zu verwechseln mit der grünen Sushi-Paste Wasabi), die Schönheit im Unvollkommenen und Fehlerhaften zu suchen und durch weniger Besitz größere Zufriedenheit zu erlangen. Dieser Lebensstil ermutigt uns zu akzeptieren, dass wir unvollkommen sind. Erst wenn wir den natürlichen Lauf der Zeit annehmen und das Altern schätzen lernen (sei es bei Möbeln, Deko-Objekten oder bei den Falten in unserem Gesicht), erweckt dies mehr innere Klarheit und Freude. So wertete bereits die alte japanische Königsherrschaft die Akzeptanz der Unvollkommenheit als wichtigen Schritt zur Erleuchtung.
Weniger Kram, mehr Seele.
Weniger Hektik, mehr Leichtigkeit.
Weniger Chaos, mehr Ruhe.
Weniger Kopf, mehr Herz.
Die Japanische Ästhetik
Wabi-Sabi entstammt – ebenso wie andere Richtungen der japanischen Kunst und Kultur, etwa Gartenkunst mit Bonsai, Ikebana (Kunst des Blumenarrangierens), Kintsugi (Keramik), Haiku (Poesie) oder die Tee-zeremonien – dem Zen-Buddhismus: Der ständige Fluss aller Dinge, die Unbeständigkeit des Seins und die Akzeptanz der Unvollkommenheit stehen hier beispielgebend als geistige Werte und moralische Vorschriften für die Zen-Philosophie.
So wurde der schwer zu übersetzende Begriff „Wabi-Sabi“ im 16. Jahrhundert auch von einem japanischen Tee-Meister und Zen-Mönch eingeführt. In seiner ursprünglichen Bedeutung leitet sich der Begriff von den japanischen Wörtern Wabi (traurig, einsam, elend, verlassen) und Sabi (alt sein, vergehen, Patina, antikes Aussehen) ab. Zeitgemäß könnte das Begriffspaar als „Schönheit unvollkommener, vergänglicher und unvollständiger Dinge“ übersetzt werden. Fragt man einen Japaner nach der Bedeutung, kommen meist Hinweise auf Tee, Zen und die Natur – eine eindeutige Definition gibt es in der japanischen Sprache allerdings nicht. Wabi-Sabi ist vereinfacht gesagt die Art der Japaner, durchs Leben zu gehen und das Schöne mit dem fühlenden Herzen und viel Achtsamkeit zu begreifen.
Unperfekter Purismus
Durch den begrenzten Wohnraum gelten Japaner als wahre Meister in der Gestaltung kleiner Räume. Auch hierzulande wird der Wabi-Sabi Begriff hauptsächlich in Zusammenhang mit Wohndesign verwendet, als eine Art natürlicher Einrichtungsstil, der rustikales Aussehen, organische Werkstoffe, dezente Naturtöne, Textur und Beschaffenheit würdigt. Die Ästhetik von Wabi-Sabi zeichnet sich durch Asymmetrie, Rauheit, Einfachheit, Unregelmäßigkeit und Sparsamkeit aus und gilt dabei als japanische Schwester von Purismus und Minimalismus.
Aber wie findet die Philosophie des Wabi-Sabi konkret Einzug in unser Zuhause? Das Einfache und Reduzierte ist das wahre Ideal beim puristischen Einrichten nach japanischem Vorbild. Die Räume sind zu 40 % leer und werden je nach Funktion in Zonen aufgeteilt. Diese optische Leere im Raum dient dem Fokus auf ausgewählte Möbelstücke – in Japan sind das oft alte Erbstücke mit Patina, die über mehrere Generationen im Haus bleiben – und dem Genuss von freier Wohnfläche. Naturmaterialien in höchster Verarbeitungsqualität, wie helles unbehandeltes Holz, Stein und Keramik kommen bevorzugt zum Einsatz. Textilien unterschiedlicher Oberflächen in Naturfasern (Leinen, Baumwolle, Wolle, Jute) und dezenten Mustern bringen Abwechslung in das puristische Interieur. Dabei werden Akzente eher mit Texturen gesetzt als mit Farben. Naturtöne und wärmere Nuancen aus dem Sand-, Grün-, Blau- oder Rosé-Bereich zaubern Heimeligkeit, auf weiße und anthrazitfarbene Wände wird wegen des großen Kontrastes verzichtet. Dekoration wird sehr spärlich eingesetzt – besondere Erinnerungs- und Erbstücke, Handgemachtes und Dinge, die glücklich machen, dürfen nach Wabi-Sabi aber immer bleiben. Aus all diesen Elementen ergibt sich ein moderner, schlichter, gleichzeitig traditioneller und höchst wirkungsvoller Wohntrend.
Die britische Autorin Beth Kempton studierte Japanologie und lebte mehrere Jahre in Japan, um sich in die Landeskultur mit all ihren feinen Nuancen zu vertiefen. In ihrem Buch „Wabi Sabi. Die japanische Weisheit für ein perfekt unperfektes Leben“ gibt sie wertvolle Tipps zum Entrümpeln und nennt die Grundsätze für ein von Wabi-Sabi inspiriertes Zuhause.
Grundsätze für ein Wabi-Sabi Zuhause:
- Räumen Sie Ihren Eingangsbereich auf (Schuhe in Regale, Jacken in Schränke).
- Gestalten Sie die Räume sauber, ordentlich und einladend nach dem Prinzip einer gefühlvollen Schlichtheit.
- Matte Naturmaterialien (Holz, Stein) und natürliche Stoffe verleihen Ihrem Zuhause Ruhe und Charakter.
- Holen Sie die Natur in Ihr Zuhause (mit Blumen, Ästen, Muscheln, handgemachten Kränzen).
- Ihr Zuhause sollte alle fünf Sinne ansprechen (durch Musik, ätherische Öle, etc.).
- Nutzen Sie nur Gegenstände, die kostbar für Sie sind.
- Schaffen Sie winzige Schönheitswinkel durch liebevolle Details an unerwarteten Orten.
- Spielen Sie mit Licht und Schatten, Kontrasten und unterschiedlichen Texturen.
Weniger ist mehr
Unter „Soulful Simplicity“ (gefühlvolle Schlichtheit) versteht man das Ausmisten und liebevolle Gestalten eines Heims, das keinen großen finanziellen Spielraum voraussetzt. Denn das Verändern unserer Umgebung kann bereits einen positiven Wandel in unserem Leben herbeiführen. Dabei geht es um die bewusste Entscheidung, was wir behalten und was wir los-
lassen möchten. Glaubt man der japanischen Ordnungs-Ikone Marie Kondo, die auf YouTube und Netflix mit ihren Aufräumtipps nach der „KonMari“-Methode einen wahren Hype auslöste, spart Ausmisten Zeit und Geld und schafft Raum für Dinge, die einem am Herzen liegen. Beim Entrümpeln gibt es keinen perfekten Augenblick – fangen Sie am besten gleich damit an.
Um aus der Spirale von Verschwendung und Überfluss auszubrechen, kann man sich dem „Soulful Shopping“ zuwenden. Bevor man sich etwas Neues anschafft, sollte man sich folgende Fragen stellen: Brauche ich das wirklich? Hängt mein Herz daran? Harmoniert es mit meinen anderen Habseligkeiten? Ist es die Sache wert? Ist es aus natürlichen Materialien gemacht? Wenn das Objekt der Begierde nicht der Lebensphase dienlich ist, nicht den Zweck erfüllt oder durch Ausleihen oder Tauschen umsonst erhältlich ist, sollte man vom Kauf absehen. Natürlichen Materialien und langlebigen Modellen ist dabei immer der Vorzug zu geben, auch wenn man mehr Geld in die Hand nehmen muss.
Wer sich nach mehr Einfachheit im Leben sehnt, kann Wabi-Sabi nicht bloß im Wohnen und Dekorieren, sondern auch im alltäglichen Denken und Handeln einfließen lassen. Die Prinzipien von Wabi-Sabi bieten uns ein Werkzeug, um dem Chaos und den materiellen Zwängen des Lebens zu entfliehen. Erst wenn wir uns von der Perfektion verabschieden und das Schöne im Alltäglichen suchen, müssen wir unser Selbstbild nicht mit irgendwelchem Krempel aufwerten.
Tipps zum Entrümpeln:
- Erstellen Sie eine Liste mit den Hauptkategorien Ihres Krempels (z.B. Bücher, Spielzeug, Deko, Kleidung). Suchen Sie sich eine Kategorie aus und tragen alles zusammen, was darunterfällt. Behalten Sie nur, was Sie wirklich brauchen oder lieben und entsorgen Sie den Rest.
- Ersetzen Sie Bücher, CDs, Fotos, etc. durch technische Hilfsmittel (E-Reader, Musik-Apps)
- Wählen Sie besondere Erinnerungsstücke aus, bewahren Sie den Rest in Ihrem Gedächtnis und trennen sich davon.
- Sortieren Sie Ihren Papierkram in drei Stapel:
- Als erstes Tätig werden, 2. Ablegen und 3. Wegwerfen. Behalten Sie nur Dokumente, wozu Sie gesetzlich verpflichtet sind. Schreddern Sie alles Vertrauliche und werfen den Rest in die Altpapiertonne.
- Misten Sie Ihre Handtasche und Geldbörse aus.
- Beteiligen Sie die Menschen, mit denen Sie zusammenleben, am Entrümpeln.