In Vielfalt geeint?

Text: Doris Thallinger

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Europa steht am Scheideweg. Gerade die Corona-Krise hat ein weiteres Mal aufgezeigt, dass Europa, vielmehr die Europäische Union, weit entfernt ist von jeder Einheit. Nationalismus, Bürokratie und Egoismus verhindern gemeinsame Stärke, die notwendiger ist als je zuvor, um weiterhin als globaler Key Player Bestand zu haben.

Im Jahr 1949 wurde der Grundstein gelegt für eine neue Zusammengehörigkeit des europäischen Kontinents: die Gründung des Europarats und damit die Basis aller europäischen Einigkeit. Die Philosophie des geeinten Europas war ein klares Bekenntnis zu Europäischen Menschenrechten, zur Rechtsstaatlichkeit sowie zu europäischer Kultur und Identität. Die Einigung Europas, der Zusammenschluss dieser Länder, die sich in ihrer Geschichte über Jahrhunderte immer wieder bekriegt hatten, versprach, ein noch nie da gewesenes Friedensprojekt zu werden. Mit gemeinsamen Zielen wie Freiheit, Demokratie, Recht und Wohlstand wurde Europa zum friedlichsten Kontinent, zur Nummer eins der Weltwirtschaft.

Der Frieden wurde selbstverständlich, ebenso Wohlstand und Demokratie. Je unwichtiger die ursprüngliche Vision des geeinten Europas wurde, desto mehr begann die Fassade zu bröckeln. „In Vielfalt geeint“, wie das offizielle Motto der Europäischen Union lautet, scheint nicht mehr so ganz zu stimmen. Vielfalt? Ja! Einheit? Leider nein!

Jeder ist sich selbst der Nächste
Als die Corona-Krise über Europa hereinbrach, zeigte sich in trauriger Klarheit, wie uneins die Länder der
Europäischen Union sind. Bezeichnend für die innereuropäische Situation lautete das Motto: Rette sich, wer kann! Eilends wurden Grenzen dicht gemacht, die einzelnen Staaten ritterten um Lieferungen fehlender Schutzausrüstung – von einer gemeinsamen Strategie, um der Situation Herr zu werden, war man meilenweit entfernt. Kochte über Monate jeder sein Süppchen und schielte eifersüchtig auf Infektionszahlen der Nachbarländer, verlief die (geeinte) Beschaffung der Impfstoffe holprig, so entfachte sich schließlich sogar der politische Kampf um Produktionsstandorte.

Eine traurige Symbolik, was von einem früher sicherlich einmal vorhandenen Gemeinschaftsgefühl übrig ist. Verwöhnt von jahrzehntelangem Frieden, Wohlstand und verschont von massiven Krisen, ist eine Welle in Bewegung geraten, die die nationalen Einzelinteressen vor die Gesamtinteressen der EU gestellt hat, nationalen Egoismus vor Solidarität. Dies zeigt sich nicht nur in einer – sozusagen nicht vorhandenen – gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik, fehlenden Wirtschaftssynergien und dem schwachen Auftritt nach außen, sondern auch in einem immer noch schwächeren „Wir“-Gefühl als Europäer. Das Konstrukt „Europäische Union“ ist zwar omnipräsent, jedoch für den Einzelnen mit keinerlei Emotion oder gar mit Loyalität besetzt.

Woran die „Alte Welt“ krankt
Dem modernen Europa fehlt es an einer gemeinsamen Vision, das Konstrukt „Friedensprojekt“ hat sich überholt, zu selbstverständlich sind heute die Errungenschaften der Nachkriegsjahre. Errungenschaften, die großteils nur durch die Unterstützung des großen Bruders USA möglich waren – was eine gewisse Abhängigkeit, die nunmehr 77 Jahre andauert, zur Folge hat. Die große Frage wird sein, wie sich dieses Verhältnis nun in der Post-Trump-Ära entwickelt.

Aus dem Mangel der gemeinsamen Vision folgt eine fehlende gemeinsame Strategie der europäischen Staatengemeinschaft. Zunehmende innere Zersplitterung und Zerwürfnisse, außenpolitische Uneinigkeit machen es Europa schier unmöglich, nach außen Stärke zu beweisen. Diese Uneinigkeit der Staaten, wechselwirksame Abhängigkeiten, ein hochgradig bürokratischer Apparat und mittlerweile ineffiziente Systeme der Einstimmigkeit verhindern jegliche politische, wichtige Handlungsfähigkeit.

Das Vertrauen in die Politik und in die Vertreter der Europäischen Union im Speziellen ist gesunken, spätestens seit der Finanzkrise 2008, die harte Konsolidierungs- und Sparkurse sowie die Notwendigkeit von Rettungsschirmen nach sich gezogen hat. Seitdem wird der Ruf nach einem neuen Nationalismus in so gut wie allen Europäischen Staaten immer lauter. Nationalismus sowie antieuropäische, ja selbst antidemokratische Bewegungen sind im Vormarsch. Gefundenes Fressen für Populisten, die mit ihren Forderungen nach nationalem Egoismus heute auf offene Ohren stoßen.

Die Europäische Union ist ein politisches Gefüge der Mitgliedsstaaten, fußend auf rationalen Gründen, doch unter den Bürgern der Union mit keinerlei Emotion behaftet, es existiert keine gemeinsame Mentalität. „Ich bin Österreicher“ kommt immer vor „Ich bin Europäer“, wenn überhaupt soweit gedacht wird. Brüssel ist weit entfernt, nicht greifbar und in keinerlei Art und Weise durch irgendeine Kommunikation mit den Bürgern direkt verbunden. Europa verliert an Boden, die „Verfolger“ um die Weltmacht holen nicht nur auf, sondern setzen zum Überholen an.

Dynamische Rivalen
Stärkere, dynamischere, vor allem aber erfolgshungrigere Kontingente, respektive Staaten, treten auf den Plan, allen voran China mit der klaren Vision und akkurater Strategie, die Nummer 1 der Weltwirtschaft zu werden und bis 2049 die größte Volkswirtschaft der Welt zu sein, vor Indien und den USA bis dahin auf dem 3. (!) Platz!
Die Weichen dafür sind bereits gestellt: China ist stark im Bildungswesen – zwei der Top-Ten-Unis weltweit befinden sich im Land des Lächelns, insbesondere in den zukunftsträchtigen MINT-Fächern liegt China an der Spitze.

In Sachen Know-how-Gewinnung verfolgt China seit längerem die konsequente Strategie, sich in zukunftsträchtige Branchen einzukaufen und damit vom „Auftragsproduzenten“ zum eigenständigen Technologieführer zu werden. Mit Erfolg. Während derzeit Europa mit der drohenden Rezession zu kämpfen hat, steigt das Wirtschaftswachstum in China seit einem Jahr bereits wieder an. Der aktuell dahinsiechende Kapitalmarkt spielt dem asiatischen Riesen in die Hände, ebenso wie seine Macht über einzelne europäische Länder, die der harte Spar- und Konsolidierungskurs der EU besonders hart getroffen hat und die in eine Schuldenfalle gegenüber China getappt sind. Diese Länder verhindern erfolgreich harte Schritte der Europäischen Union, um der uneingeschränkten Einkaufswut der Chinesen auf Staatskosten Einhalt zu gebieten.

Wechselwirkung
China braucht Europa. Als riesiges Land mit enormem Wirtschaftswachstum ist es abhängig vom sicheren Lieferfluss von Rohstoffen und Nahrungsmitteln. Mit knapp 20 Prozent der Weltbevölkerung verfügt China lediglich über rund 10 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche weltweit! Und China muss sich zunehmend mit Werten wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit auseinandersetzen, um sein Volk auch künftig hinter sich zu wissen. Auf lange Sicht kann das System nur funktionieren, wenn es auch den Menschen und der Gesellschaft Wohlstand und Vorteile bringt.

2049 – 100 Jahre
2049 ist das Jahr der Jubiläen. Nicht nur werden wir 100 Jahre demokratisches Europa feiern, auch die Geburtsstunde des kommunistischen Chinas jährt sich zum hundertsten Mal. Wer mehr Grund zu feiern hat, wird sich zeigen und zu großen Teilen davon abhängen, wie schnell ein geeintes Europa sich formiert, um sich einerseits zu alter Stärke aufzuschwingen und – fast wichtiger – diese Stärke als Einheit nach außen hin zu beweisen. Wem es besser gelingt, schnelle Entscheidungen in allen Bereichen mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und menschenwürdigen Bedingungen zu vereinbaren, hat die besseren Chancen, als Gewinner hervorzugehen.