Familie ist oftmals nur ein Zustand von Sehnsucht
Text: Stephan Kaindl-Hönig
Wer in Zeiten wie diesen keine Familie hat oder gar niemanden hat, der Halt gibt, der darf sich zumindest getrost sein, dass der Begriff Familie für viele, die eigentlich eine Familie haben, auch nur für ein glorifiziertes Synonym eines Träumers steht, der sehnsüchtig den Begriff hochhält für etwas, was in Wahrheit in der eigenen Realität nicht existent ist oder gar nie existiert hat. Verabschieden Sie sich deshalb von dem Gedanken, es müsse unbedingt die Familie sein, wie wir sie kennen, und denken Sie einen Moment nach, wie Sie sich die Quintessenz dieses Begriffs aus tiefstem Herzen vorstellen, völlig losgelöst von den festgefahrenen Zwängen und Ritualen.
Keine Begegnungen mehr, bei denen man sich nicht wohl fühlt oder gar ausgegrenzt fühlt. Kein unechtes „Auf Wiedersehen!“ sagen müssen, bei dem man sich in Wahrheit denkt: „Zum Glück ist es vorbei!“. Kein gekünsteltes Familienleben, das eigentlich das krasse Gegenteil ist. Kein Schweigen über die wirklich wichtigen Dinge, die nie ausgesprochen werden. Kein Wille zur echten Auseinandersetzung und zur Findung des gemeinsamen Nenners.
Glauben Sie mir, leider bekommt man, egal wo, die Aufrichtigkeit miteinander wirklich offen und ohne einen schlechten Gedanken alles auszusprechen und einander neu begegnen zu wollen, auch meistens nicht gedankt. Denn ist das Schauspiel vorrangig in der Begegnung die gebräuchlichste Lösung für jeden Moment, für das Treffen unter den Verwandten bis hin zum engsten Kreis und bis hin zum entferntesten Kreis. Alles andere ist mühsam und macht einen zum unangenehmen Gegenüber. „Wie geht es Dir?“ – „Gut!“ – die Standardfloskel. Sagen Sie bitte, wenn es Ihnen nicht gut geht, es wird beim richtigen Gegenüber auch Gehör finden!
Lassen Sie etwas Neues zu: Familie ist und passiert genau dort, wo Liebe ist und man den Zustand von Geborgenheit fühlt, wo man sich mit Respekt aneinander reiben kann, wo Toleranz immer das Ende der Fahnenstange weist und wo man trotz aller Unterschiedlichkeiten einander trägt und einander vertrauen kann. Es ist dabei völlig gleichgültig, ob man die gleiche Genetik in sich trägt und einen dieselbe Geschichte miteinander verbindet. Man muss nur zulassen, miteinander zum Begriff Familie eine neue Geschichte zu schreiben, ein weiteres Kapitel, muss beginnen eine weiße Seite mit Inhalt zu füllen – aufrichtig, ehrlich, nackt und immer mit dem wertvollen Gespür für das Gegenüber. Ein tiefer Blick in die Augen, ohne ablassen zu müssen und sie auch getrost schließen zu können, das ist Familie.
Sie kann jederorts entstehen, im kleinsten Kreis der Familie und mit jedem, der dies verstanden hat, auch wenn er nicht aus gleichem Fleisch und Blut ist. Sie mag ihr Aussehen neu definiert haben, sie kann augenblicklich und eventuell auch vergänglich sein, aber mit voller Kraft. Man muss es nur zulassen, denn Familie ist nur ein Synonym, dem es gilt Leben einzuhauchen.
Noch eines: Chapeau an alle, bei denen Familie im klassischen Sinn wirklich funktioniert. Dieses wertvolle Geschenk muss man sich bewahren und behüten und vielleicht auch jemanden teilhaben lassen. Das ist etwas ganz Besonderes!